An diesem Tag begann die auf zwei Verhandlungstage angesetzte Befragung eines Zeugen, nämlich des Vernehmungsbeamten, der Bruno D. in mehreren Terminen vernahm und das in einer Atmosphäre eines „angenehmen Miteinanders“.
Die Richterin Meier-Göring richtete viele Fragen an den Beamten Thomas Pinke. Der jedoch konnte sich an keine besonders auffälligen Beobachtungen aus der Vernehmung erinnern. Es wurde aufgrund eines Mitschnitts ein Vernehmungsprotokoll erstellt, dann an den Verteidiger Waterkamp geschickt und am nächsten Vernehmungstermin unterzeichnet.
Auf Nachfragen berichtete der Polizeibeamte Pinke nun aus Bruno Ds Lebenslauf und seiner Rekrutierung als Wachmann. Hier kam wenig Neues heraus. Etwas präziser als in der gerichtlichen Vernehmung schilderte Bruno D. die angebliche Verhaftung seines Vaters aufgrund einer „kritischen Bemerkung“, er soll gesagt haben: „Wir haben schon mal vor Moskau gestanden“ (das soll sich auf 1918 bezogen haben). Erörtert wurde auch Bruno Ds Herzfehler. Er spüre bis heute Schmerzen, habe aber den Herzfehler nicht bewusst eingesetzt, um sich dem Fronteinsatz zu entziehen.
Bezüglich der Vernehmung zum KZ Stutthof interessierte die Richterin, welche Karten des Lagers benutzt worden seien und ob Bruno D. die Gebäude und die Wachtürme, auf denen er eingesetzt war, identifizieren konnte. Bruno D. habe das Gelände größer in Erinnerung, konnte aber das Krematorium, die Gaskammer und das „Neue Lager“ auf den Karten bezeichnen und benennen. Dagegen konnte nicht genau rekonstruiert werden, auf welchen Wachtürmen Bruno D. stand. Einen Wachdienst auf dem Turm am Krematorium hielt er nur für „möglich“. Vom Wachdienst habe er ausführlicher nur die beiden Episoden des Einsatzes außerhalb des Lagers (mit einem Häftlingskommando an einer Baustelle, wo ein Pferdekadaver gefunden wurde sowie die Begleitung von Häftlingen zu einem Fabrikkommando per Bahn) erinnert. Auch habe er keine Erinnerung an abgehende oder ankommende Transporte. Dagegen habe Bruno D. „spontan“ von seinem Gewehr erzählt, welches er immer bei sich gehabt habe, aber „da ist nie eine Kugel durchgegangen“, so O-Ton Bruno D. im Vernehmungsprotokoll.
Ausführlicher wurde über Bruno Ds Aussagen zu den Häftlingen gesprochen. Bruno D. habe zuerst keine jüdischen Häftlinge, sondern nur politische Häftlinge erkannt. An ein Kennzeichen habe er sich nicht erinnert – allerdings habe er an anderer Stelle von dem Kennzeichen „P“ (für Polen) gesprochen. Gefragt, warum er ausschloss, mit jüdischen Häftlingen (in den beiden Gruppen, die er bewachte) zu tun zu haben, habe Bruno D. gesagt: „Die sprachen gut Deutsch.“
Später aber habe er die „Gaskammer“ als solche bezeichnet und auch erinnert, dass diese dem „Judenmord“ oder der „Judenvernichtung“ diente. Und er sprach dabei auch von „anderen“ Gefangenen und meinte damit offenbar doch jüdische Häftlinge.
Bruno D. habe mehrere Beobachtungen des Frauenlagers erinnert. Meier-Göring begann nun auch, wenn der Polizeibeamte Pinke Situationen des Verhörs nicht mehr gut wiedergeben konnte, selber aus dem Protokoll vorzulesen, z.B.: „Morgenappell war, weiß nicht, ob die anderswo gearbeitet haben. Antreten, jede Baracke für sich wurde gezählt, dann wieder zurück in die Baracke.“ Bruno D. habe von seinem Wachturm auch täglich Tote auf einem Haufen gesehen, über Wochen, das habe am „Fleckfieber“ gelegen. Die Toten wurden „aufeinander geworfen“, „splitternackt, deren Zeug haben sich die anderen gleich unter den Nagel gerissen“, die Toten lagen „stapelweise“, wurden „zack, gleich raufgeschmissen, nicht raufgelegt“ auf den Handkarren zum Abtransport. Meier-Göring interessierte sich für die (tägliche) Zahl der Toten und verlas die entsprechende Passage von Bruno D.: „Zwei Wagen voll und da wurden die Leichen so übereinandergelegt, 10-15 Stück in einer Reihe und eine zweite Reihe drauf.“ Bei dieser Rekonstruktion von Zahlen blieb unklar, auf wie viele Blocks sich die Zahl von 20-30 Toten bezog.
An Situationen wie dieser fiel auf, dass der Vernehmungsbeamte Pinke die Aussagen von Bruno D. in anderen Worten als die von Bruno D verwendeten wiedergab, so sagte er beispielsweise zur fehlenden Kleidung der Toten: „andere haben die Kleidung an sich genommen“. Ich zitiere hier deshalb aus dem Protokoll, um die unmenschliche Ausdrucksweise Bruno Ds zu zeigen.
In die Diskussion darüber, was Bruno D. zur Behandlung der Häftlinge sagte, mischte sich auch der Staatsanwalt Mahnke aus seiner Beobachtung der Vernehmung ein (Mahnke war ab der zweiten Vernehmung beteiligt). Denn die Toten konnten nicht, wie Bruno D. es darstellen wollte, nur durch die Krankheit so abgemagert sein und nach einer Art „Streitgespräch“ (Mahnke) habe Bruno D. eingeräumt, sie seien auch unterernährt gewesen.
Anschließend kam noch ein weiterer Widerspruch in Bruno Ds Aussage zur Sprache. Dieser habe verneint, von einer ärztlichen Behandlung von Häftlingen gewusst zu haben. Später habe er erwähnt, dass er sah, wie Häftlinge „da drin in der Gaskammer waren in Wartestellung“ und dann einzeln von einem Mann im weißen Kittel zum Krematorium gebracht wurden, „dann wurde denen gesagt, dass sie zur Untersuchung kommen“ – und nicht wieder herauskamen. Jedoch habe Bruno D. dann wieder gesagt, von einer Tötung durch Genickschüsse bei einer vorgetäuschten ärztlichen Untersuchung bei der Vernehmung das erste Mal gehört zu haben. Dieser Widerspruch entging dem Polizeibeamten, wie er einräumen musste. Auch die Besichtigung des Krematoriums räumte Bruno D. in der Hauptverhandlung und in einem älteren Verhör ein, jedoch nicht bei der damaligen Vernehmung.
Einige Aspekte der Vernichtungsaktionen habe Bruno D. erzählt. „Ich habe wohl gesehen, dass einer auf dem Dach der Gaskammer herumspaziert.“ Seine „Kollegen“ hätten ihm erklärt, dass Scheiterhaufen zur Verbrennung von Leichen sein mussten „weil das Krematorium die ganzen Leichen nicht schafft“. „Wir wussten, dass da Leute vergast werden, aber nicht wie.“ „Ich hab da aus der Ferne mal Schreie gehört, einmal, was da los war, wusste ich nicht.“ Bruno D. musste nach „Nachbohren“ des Beamten einräumen, auch von dem zur Vergasung umgebauten Waggon erfahren zu haben.
Interessiert war die Richterin noch daran, ob Bruno D. bei der Vernehmung mal geweint habe (das könne man ja dem Protokoll nicht entnehmen), aber das sei nicht so gewesen, eher habe Bruno D. „abgeblockt“ und nur gesagt: „Die haben mir leid getan. Juden haben genauso ein Recht zu leben. Es war Hitler, der sie ausrotten wollte.“
An dieser Stelle wurde die Befragung unterbrochen, sie soll am 7. Mai fortgesetzt werden.
Zwar sind an diesem Verhandlungstag einige Widersprüche in Bruno Ds Aussage beleuchtet worden; aber der Beamte wollte nichts dazu sagen, ob das der langen Zeitspanne geschuldet ist oder ob er ein Verschweigen Bruno Ds dahinter sieht.
Ich möchte als Mitschreiber anfügen, dass mir Bruno Ds Sprache mit ihrer fortgesetzten Entwürdigung der Opfer, wie sie in den Zitaten aus dem Protokoll aufscheint, das Verstehen der unmenschlichen Details noch unerträglicher macht. (tk)