Der französische Überlebende Henri Zajdenwerger, 92 Jahre alt, wohnhaft in Paris, sagt als Zeuge aus. Seine Aussage wird von einer Dolmetscherin übersetzt. Henri Zajdenwerger wurde im Mai 1944 über Drancy zunächst in das KZ Kaunas und weiter in ein Gefängnis nach Tallin verschleppt. Von dort kam er per Schiff nach Danzig und Ende August 1944 schließlich in das KZ Stutthof. Henri Zajdenwerger schilderte dem Gericht zunächst, dass seine Familie ursprünglich aus Polen kam und das Land aufgrund der antisemitischen Pogrome in Richtung Frankreich verließ. 1926 zog die Familie nach Metz, wo der Vater Arbeit als Buchhaltergehilfe fand. Später ließ sich sein Vater in Nancy nieder, seine Mutter starb kurz nachdem sie Henri zur Welt gebracht hatte. Henri Zajdenwerger wuchs zunächst bei einer christlichen Pflegemutter in einem Vorort von Metz auf und kam mit fünf oder sechs Jahren zu seiner Großmutter. Er besuchte eine normale Schule und erlebte dort bereits antisemitische Anfeindungen. Seine Klassenkameraden bezeichneten ihn als „dreckigen Juden“, ohne zu wissen, was das überhaupt ist. Henri Zajdenwerger bezeichnete dies als „Antisemitismus zweiten Grades“.
Mit dem deutschen Überfall auf Frankreich wurde Henri Zajdenwerger mit seiner Familie nach Angoulême evakuiert. Am 8. Oktober 1942 gab es eine Razzia in dem Ort, bei der die gesamte jüdische Bevölkerung in der Philharmonie zusammengetrieben getrieben wurde. Nachdem die Menschen dort mehrere Tage gefangen gehalten wurden, sollten die französischen Juden hervortreten. Henris Vater hob den Arm seines Sohnes, der einen französischen Pass hatte. Henri Zajdenwerger konnte diese Situation zunächst nicht verstehen und fühlte sich von seinem Vater zurückgewiesen. Der gab ihm eine Adresse, von einem Geschäftsbesitzer, an den sich Henri wenden sollte. Der Mann nahm Henri bei sich auf und entfernte den Davidstern auf dessen Kleidung. Henri Zajdenwerger betonte, dass er nun 1 ½ Jahre in „falscher Sicherheit“ lebte.
Im Januar 1944 wurde er dann bei einer Razzia zur Verschleppung von Zwangsarbeitern verhaftet. Dabei wurde festgestellt, dass er Jude ist. Bei den Verhören im Gefängnis von Angoulême erfand er eine Geschichte, was er die letzten 1 ½ Jahre gemacht hatte, um den Mann, der ihn aufgenommen hatte, nicht zu gefährden. Von Angoulême kam Henri Zajdenwerger nach Drancy, wo er zur Organisation Todt eingeteilt wurde. Drei Tage waren sie in einem Zug nach Kaunas unterwegs, der dort geteilt wurde. Henri Zajdenwerger wurde weiter nach Tallin deportiert, wo er zunächst einige Tage im Gefängnis inhaftiert war. Dann kam er in eine Kaserne, die in ein Lager umgewandelt wurde. Die Häftlinge mussten dort auf einem Flugplatz arbeiten und eine Landebahn bauen. Ende August 1944 wurde das Lager geräumt und die Gefangenen auf einem Frachtschiff, auf das die Deutschen ein rotes Kreuz malten, um sich selbst zu schützen, drei Tage nach Danzig transportiert. Von Danzig aus mussten sie zu Fuß in das KZ Stutthof laufen. Henri Zajdenwerger schätzte, dass sich auf dem Transport etwa 500 Männer befanden, von denen 22 mit ihm aus Drancy kamen. Er habe zu dieser Zeit nicht wissen wollen was passiert, so Zajdenwerger, und nur im Moment gelebt. In Stutthof kamen die Männer in Baracken. Henri Zajdenwerger musste im Waldkommando arbeiten und Bäume fällen.
In diesem Moment sprach die Richterin Bruno D. an, der offensichtlich etwas benommen schien. Der Angeklagte erklärte, dass er nicht versteht und nicht mitbekommt, was hier gesprochen wird. Henri Zajdenwerger erkundigte sich daraufhin beim Gericht, was der Angeklagte angeblich nicht versteht. Die Verhandlung wurde nun für 30 Minuten unterbrochen.
Nach der Pause bekundete Bruno D.: „Ich bin wieder da.“ Die Richterin befragte Henri Zajdenwerger als nächstes nach den Zuständen in der Baracke und der Verpflegung im KZ Stutthof. Der Zeuge erklärte, dass er nicht mehr wisse, wie viele Menschen in einer Baracke untergebracht waren. Die Häftlinge mussten auf Etagenbetten schlafen und er teilte sich mit einer Person ein Bett. Im Lager habe er große Angst gehabt und sich hinter einer Person versteckt, die ihn unter ihren Schutz nahm. Ständig seien sie geschlagen worden. Bei seiner Ankunft im Lager wurde Henri Zajdenwerger rasiert und seine Kleidung in ein Bad zur Desinfektion getaucht. Danach musste er die nassen Sachen wieder anziehen.
Morgens haben die Häftlinge ein Stück Brot erhalten, das er gleich gegessen habe, so Henri Zajdenwerger. Sein Kompagnon habe ihm das Brot schließlich weggenommen, um es zu rationieren. Henri Zajdenwerger erinnerte sich, wie Häftlinge im Lager von der SS erhängt wurden. Bei den Appellen mussten die Häftlinge zählen, wenn sie sich verzählten, mussten sie wieder von vorne anfangen. Henri Zajdenwerger betonte, dass die Häftlinge im Lager schlimmer als Tiere behandelt wurden, sie hätten noch darunter gestanden. Die SS habe keinerlei Respekt für sie gehabt. Die Wachmänner habe er beim Appell von weitem auf den Wachtürmen gesehen. Er hatte Angst vor ihnen und versteckte sich immer hinter seinem Helfer. Er sei kein Held gewesen, so Henri Zajdenwerger. Die Richterin sprach den Zeugen noch einmal auf die Verpflegung im Lager an. Zajdenwerger erklärte, dass es morgens noch „Kaffee“ gab, der nur gefärbtes Wasser gewesen sei. Mittags erhielten die Häftlinge eine Suppe. Bei der Suppenausgabe musste man versuchen in der Mitte zu sein, um nicht nur Wasser zu erhalten. Die Häftlinge waren so hungrig, dass sie auch Kartoffelschalen aßen. Henri Zajdenwerger erinnerte sich an einen Boxer unter den Häftlingen, der schnell starb, weil sein Körper einen höheren Energiebedarf hatte.
Am Sonntag mussten die Häftlinge nicht arbeiten und nutzten die Zeit, um die Läuse in ihrer Kleidung zu töten. Im Waldkommando wurde Henri Zajdenwerger beim Tragen der Bäume von seinen Mithäftlingen in die Mitte genommen, um nicht so viel tragen zu müssen. Immer wenn der Kapo guckte, wurde er wieder nach vorn gestellt. Henri Zajdenwerger betonte, dass sie bei der Arbeit von der SS umringt waren. Die SS-Männer waren sehr brutal und schlugen sie mit Gewehren in den Rücken. Er könne sich nicht daran erinnern, dass die SS ihn jemals angesprochen habe, so Zajdenwerger auf Nachfrage der Richterin. Die SS habe ihn nur geschlagen. Auch Hunde habe die SS zur Bewachung der Häftlinge eingesetzt.
Bei seiner Befreiung, so Henri Zajdenwerger, habe er nur noch 30 kg gewogen. Kurz darauf wurde er krank, weil sein Magen das Essen, was sie von der Roten Armee erhielten, nicht aufnehmen konnte. Auf die Frage der Richterin, was das Schlimmste während seiner KZ-Haft gewesen sei, antworte Henri Zajdenwerger, die Appelle, die nicht mehr aufhörten und dass er seine nasse Wäsche wieder tragen musste. In dieser Zeit habe er seinen Glauben verloren: „Wo ist er, der liebe Gott?“ Bei seiner Rückkehr nach Frankreich habe er die Ereignisse vollkommen ausgeblendet., er wollte nicht darüber reden. Auslöser, über seine Erfahrungen zu berichten, sei das von Serge Klarsfeld initiierte Memorial de la Shoah in Paris gewesen. Ihm sei bewusst geworden, dass er Zeugnis ablegen müsse, so Henri Zajdenwerger. Er habe zunächst gar nicht gewusst, was mit seiner Familie in Auschwitz geschehen war. Als er letzte Woche mit dem französischen Premierminister bei den Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung in Auschwitz war, sei ihm klar geworden, dass er zurückgekehrt ist.
Abschließend fragte die Richterin den Zeugen, wie sie es auch schon bei anderen Überlebenden getan hatte, wie er sich heute in einem deutschen Gerichtssaal fühlt, mit einem Angeklagten in seinem Alter, der zur selben Zeit wie er in Stutthof als Wachmann war. Henri Zajdenwerger erklärte, dass er nicht verstehe, warum dieser Mann erst heute angeklagt werde. Die Richterin entgegnete hierauf, dass das wahrlich ein „großes Versagen der deutschen Justiz“ sei. Henri Zajdenwerger fuhr fort: „Der Antisemitismus ist wie der Krebs.“ Es sei ihm wichtig, heute Zeugnis abzulegen. Dem Angeklagten habe er nichts zu sagen, zwischen ihnen herrsche eine große Distanz. Bruno D. sei sich bewusste gewesen, was er gemacht hat und nun müsse er mit seinem Gewissen zurechtkommen. Henri Zajdenwerger betonte, dass er nicht an eine Entschuldigung des Angeklagten glaube. Letzterer habe bis heute gut gelebt und eine Familie. Bruno D. müsse sich mit seinem eigenen Gewissen auseinandersetzen, ob es richtig war, was er getan hat.
Die Richterin erklärte, dass am nächsten Termin, dem 14.2.20, erneut der polnische Überlebende Marek Dunin-Wasowicz gehört werde. Die Verhandlung wurde daraufhin geschlossen.