Zu Beginn der Verhandlung wurde zunächst die „Causa Loth“ thematisiert. Loths Anwalt erklärte, dass sein Mandat nun beendet sei und Mosche Peter Loth seine Nebenklage zurückgezogen habe. Die Richterin sagte hierzu, dass die Kammer die Entscheidung Loths begrüße und nach der Prüfung seines Nebenklagevortrags zu der Feststellung kam, dass dieser teilweise falsche Angaben enthält. So hatte Loth angegeben, dass ihm und seiner Mutter in Stutthof die Häftlingsnummer eintätowiert worden sei. Die Nummern sind Häftlingen aber nur in Auschwitz tätowiert worden. Die Richterin erklärte, dass bereits bei der Vernehmung des Zeugen Loth deutlich geworden sei, dass auf diesen Zeugen nichts gestützt werden könne. Dafür seien seine Aussagen zu widersprüchlich gewesen. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ändere allerdings nichts an seinem Nebenklagestatus. Rechtsanwalt Nestler ergänzte, dass er bei der Durchsicht der Unterlagen Loths fast vom Stuhl gefallen sei. So hatte Loth angegeben, dass er sich die tätowierte Häftlingsnummer entfernen lassen habe. Die Jugendstrafkammer, so Nestler, die zum ersten Mal mit einem NS-Prozess befasst ist, hätte das nicht unbedingt erkennen müssen, dafür aber die Nebenklage. Überlebende haben selten Dokumente, die ihre Verfolgungsgeschichte belegen. Die Richterin merkte zusätzlich an, dass die Kammer die Glaubhaftmachung niedrigschwellig angesetzt habe, um niemanden abzuweisen, der/die tatsächlich Häftling des KZ Stutthof war.
Nun wurde der Historiker Stefan Hördler weiter gehört. Hördler konzentrierte sich heute auf die Zusammensetzung der ersten Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns in Stutthof, in der Bruno D. eingesetzt war. Der Führer der ersten Kompanie, Richard Reddig, veranlasste, dass die jungen Jahrgänge (1923-1926), die von der Wehrmacht zur SS überstellt worden waren, in seine Kompanie aufgeteilt wurden. In der zweiten Kompanie waren v.a. die Jahrgänge 1909-1922 und in der dritten Kompanie die vor 1909 geborenen Jahrgänge vertreten. In einem Brief von Oswald Pohl an Heinrich Himmler vom 5. Juni 1944 wurde die Integration der Heeresangehörigen in die SS und deren Kennzeichnung besprochen. Die Angehörigen der Wehrmacht wurden schließlich, einem Vorschlag Himmlers folgend, mit dem doppelarmigen Hakenkreuz [Kolovrat] auf ihrer Uniform gekennzeichnet. Hördler führte dann zwei Beispiele für die Kennzeichnung von Wachmännern der ersten Kompanie in seiner Präsentation vor. Auf Nachfrage der Richterin erklärte Bruno D., dass ihm die beiden SS-Männer nicht bekannt vor kommen. Überhaupt könne er sich an niemanden mehr aus seiner Kompanie erinnern. Das doppelarmige Hakenkreuz habe er aber getragen.
Der Gutachter ging dann auf die einzelnen Stabsbefehle ein, die die Übernahme der Wehrmachtsangehörigen in die Waffen-SS regelten. Der Stabsbefehl Nr. 2 vom 19. Juli 1944 behandelte die Unterstellung der Heeresangehörigen unter die SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Hördler machte deutlich, dass es sich hierbei um ein Vorpreschen aus Stutthof im Vergleich zu anderen Lagern, gehandelt habe, um die SS mit der vollen Diszplinargewalt über die Angehörigen der Wehrmacht auszustatten. Trotzdem seien deutliche Parallelen bei der Überstellung von Heeresangehörigen an die SS zu anderen Konzentrationslagern, wie dem KZ Auschwitz, zu erkennen. In diesem Kontext führte Hördler noch einmal den Unterschied zwischen „kommandiert“ und „versetzt“ aus. Bei der „Kommandierung“ wird eine Person zu einer anderen Einheit überstellt, gehört aber formal noch zur alten Einheit. Am 31. August 1944 wurde das II. SS-Wachbataillon in Stutthof aufgelöst und die Angehörigen der Wehrmacht vollständig zur SS versetzt. Ihr Dienstverhältnis bei der Wehrmacht war ab dem 1. September 1944 beendet. Am Beispiel von Otto Freyer, einem Hauptmann der Wehrmacht, verdeutlichte Hördler, dass Versetzungen zurück zur Wehrmacht immer möglich waren. Freyer wurde als Hauptsturmführer in die SS eingegliedert, anschließend Kommandant in einem Außenlager des KZ Neuengamme und ließ sich schließlich auf eigenen Wunsch im Januar 1945 zurück zur Wehrmacht versetzen [Freyer war ab September 1944 Kommandant des AL Kaltenkirchen; Biografie: http://media.offenes-archiv.de/ss3_1_bio_1924.pdf]. Hördler betonte, dass Versetzungen vor dem 1. September leichter, grundsätzlich aber immer möglich gewesen seien.
Die Hauptverhandlung wurde für 20 Minuten unterbrochen.
Nach der Pause ging Stefan Hördler auf die Person Richard Reddig ein, der in Stutthof sowohl Führer der ersten Kompanie, als auch des gesamten Totenkopfsturmbanns war. Reddig sei, so Hördler, vom Kommandanten Werner Hoppe protegiert und letztlich auch befördert worden. Zur politischen Einstellung von Reddig zitierte Hördler eine Verfügung desselben vom 14. Januar 1937. Daraus ging hervor, dass Reddig nach seinem Tod eine „arische Bestattung“ ohne geistliche Beteiligung wünschte. Bei Richard Reddig, so Hördler, habe es sich zweifelsfrei um einen überzeugten Nazi gehandelt. Direkt nach Kriegsbeginn war Reddig im Gefangenenlager Stutthof eingesetzt und an „Säuberungsaktionen“ gegen die polnische Intelligenz und behinderte Menschen im besetzten Polen beteiligt. Für diese Mordaktionen erhielt er eine Auszeichnung. Im KZ Stutthof bestimmte Hoppe Reddig zu seinem ständigen Vertreter. Reddig füllte seine erste Wachkompanie mit erfahrenen Tätern auf, die bereits an Mordaktionen im besetzten Polen beteiligt waren. Bei den Angehörigen der Wehrmacht, die in die erste Kompanie übernommen wurden, hob Hördler den hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern bzw. solchen hervor, die bereits Angehörige der Besatzungstruppen in Polen waren.
Hieran anknüpfend griff die Richterin eine Frage auf, die sie Bruno D. bereits an einem früheren Verhandlungstag gestellt hatte: Gab es richtige Nazis in der Kompanie? Bruno D. antwortete, dass in seiner Kompanie keine Nazis dabei gewesen seien. Niemand habe „davon“ geschwärmt. Es hätten alle nur nach Hause gewollt. Mit den älteren Jahrgängen habe er überhaupt keinen Kontakt gehabt, wenn dann nur mit den jüngeren. Er wisse auch nicht mehr, wer sein Gruppenführer war. Auf Nachfrage der Richterin betonte Stefan Hördler noch einmal, dass sich die erste Kompanie durch die von Reddig getroffene Auswahl aus gewaltaffinen, überzeugten Nazis und jungen Männern, die formbar und bereits durch die NS-Erziehung (HJ) sozialisiert waren, zusammensetzte. Die Gruppenführer waren Männer, die nicht zögerten Gewalt auszuüben und in seinem Willen handelten. Die Frage, inwieweit die Kompanie von NS-Gedankengut geprägt war, sei, so Hördler, sekundär. Es gehe vielmehr darum, wie bedingungslos Befehle in dieser Kompanie ausgeführt worden sind.
Nachdem RA Waterkamp die Sorge geäußert hatte, dass sein Mandant der Verhandlung nicht mehr folgen und er seine Fragen an den Gutachter heute nicht mehr stellen könne, erklärte ein anwesender Arzt, dass Bruno D. noch 10 Minuten aufnahmefähig sei. RA Waterkamp fragte Stefan Hördler daraufhin, wie viele Gruppenführer in der ersten Kompanie eingesetzt waren. Hördler entgegnete, dass es neun Gruppenführer gab, von denen er heute fünf benannt habe. Alle fünf hatten Stutthof mit aufgebaut, waren dann in Trawniki und im KZ Lublin [Majdanek] eingesetzt und kehrten schließlich wieder nach Stutthof zurück. Auf Nachfrage von Waterkamp erklärte Hördler, dass er zur Zusammensetzung der anderen Kompanien heute keine Angaben machen könne. Waterkamp erklärte, dass es notwendig sei auch eine Gegenprobe zu den anderen Kompanien durchzuführen und deren Auswahlverfahren zu untersuchen. Die Richterin entgegnete hierauf, dass das nicht relevant sei, sondern vielmehr was für ein Klima in der ersten Kompanie geherrscht hat.
Dann erklärte die Richterin, dass Bruno D. den Saal bereits verlassen kann, sie aber noch einige Anmerkungen zu machen habe. Zunächst stellte sie gegenüber RA Waterkamp unmissverständlich klar, dass weder er noch die Angehörigen von Bruno D. feststellen können, ob der Angeklagte der Verhandlung noch folgen kann. Dafür gebe es zwei Ärzte im Raum. Weiterhin verkündete die Richterin, dass die Hauptverhandlung am 26. Februar 2020 noch nicht beendet sein werde und zehn weitere Verhandlungstage angesetzt werden. Die nächsten Verhandlungstage sollen sich wie folgt gestalten:
17.01.: Vernehmung eines der Vernehmungsbeamten und Fragen an Bruno D.
24.01.: Norwegischer Überlebender und Gutachter Stefan Hördler
28.01.: Australische Zeugin per Videovernehmung, geplanter Verhandlungsbeginn: 9:30 Uhr
31.01.: Überlebende Bloch, geplanter Beginn: 10:30 Uhr
05.02.: Französischer Zeuge und Fragen an Bruno D.
14.02.: Marek Dunin-Wasowicz und Fragen an Bruno D.
24./26.02.: Gutachter Stefan Hördler
Zu den zusätzlichen Verhandlungsterminen sollen u.a. noch Sachverständige zu Vergasungen und Fleckfieber, ein Vernehmungsbeamter, der Bruno D. 1982 verhört hat und ein weiterer Überlebender geladen werden.