Der heutige Prozesstag ging verspätet los und zog sich sehr in die Länge. Bevor die Richterin Anne Meier-Göring den Angeklagten befragte, verlas der Anwalt des Nebenklägers M. Peter Loth, Dr. Stefan Lode, eine Erklärung. Helene Loth wurde 1943 von der Gestapo als Jüdin festgenommen und ihr Sohn Peter im KZ geboren. Von der Mutter im KZ getrennt, begegnete er ihr erst 1958 wieder. In der Folge hatte Peter Loth ein sehr schweres Schicksal und musste mit schweren Beeinträchtigungen leben. Peter Loth brauchte Jahrzehnte, um das Geschehene zu verstehen. Er bedankt sich für die Möglichkeit, seine Geschichte vor Gericht zu erzählen und erhofft sich ein Signal gegen Rassismus und Judenfeindschaft. In der Erklärung wird aber betont, dass die Versöhnungsgeste des Mandanten ein persönliches Zeichen ist, das Gericht aber über die Verantwortlichkeit des Angeklagten zu urteilen und zu entscheiden hat.
An diese verlesene Erklärung knüpfte die Richterin an. Sie fragte Bruno D., wie er den Verhandlungstag und die Versöhnungsgeste von Peter Loth sieht. Bruno D. sprach von einer großen Erleichterung und dass es ihm leid tue, was Peter Loth erlebte. Er freue sich, dass Peter Loth sein Leben so gut in den Griff bekommen habe und mit der Familie glücklich sein könne. Er verstehe, dass es Peter Loth ewig verfolgt habe und Bruno D ergänzte leise: „… wie es auch mit verfolgt hat.“ Anne Meier-Göring fragte nach. Warum sei Bruno D. erleichtert? – Es sei eine Erleichterung, mal drüber zu sprechen. Er habe die Geschehnisse nicht mitbekommen und nicht gesehen. Anne Meier-Göring hakte nach und nun begann Bruno D einen kleinen Monolog. Es sei gut, dass er sich bei Einem entschuldigen konnte. „Ich hab da nix zu getan.“ Er hätte lieber in der Backstube gestanden als den Dienst als Wachmann zu tun. Von Anfang an habe er etwas dagegen gehabt. Er wollte nicht in die HJ, obwohl Uniformen verschenkt wurden. Er als die Hänseleien der Mitschüler ihn unter Druck setzten, habe er sich bei der HJ gemeldet, aber niemals einen Kameradschaftsabend besucht, auch nicht zur Zeit seiner Lehre in Danzig. Er musste sich dafür rechtfertigen und habe die Arbeitszeiten seiner Bäckerlehre und Wochenendfahrten zu den Eltern (zum Wäsche waschen) angeführt. Als Wachmann habe er eine Uniform mit „dem komischen Hakenkreuz“ erhalten und seinen Dienst gemacht. „Ob ich dazu (zur SS) gehörte, wusste ich nicht recht.“ Anne Meier-Göring unterbrach, weil Bruno D. darüber schon berichtet hatte. Sie befragte ihn länger nach der „Schuld“. Sie warf ein, dass man den Begriff ‚Erleichterung‘ eigentlich als Schuldanerkenntnis versteht, Bruno D. erklärte: „Warum sollte ich Schuld haben? Wo liegt meine Schuld? Was hätte ich tun sollen?“ Er habe „niemand ein Leid getan“, er musste auf den Turm steigen und Ausschau halten. Er habe auch niemanden beschimpft. Schuld liege bei denen, von denen es ausging – Hitler, Goebbels. Als Anne Meier-Göring fragte, ob nicht auch das Ausführen von Befehlen, der Gehorsam, Schuld sei, antwortete der Angeklagte, er wolle niemanden beschuldigen. Ob der Lagerkommandant Hoppe Schuld habe, wisse er nicht, vielleicht habe der auch Befehle ausgeführt. Was in Stutthof geschehen sei, habe keiner gut geheißen, es sei aber nicht darüber gesprochen worden. Die Frage, ob nicht auch ‚Mitmachen‘ Schuld sei, blieb zunächst unbeantwortet, sie sollte ein Denkanstoß sein. Anne Meier-Göring kam dann genauer auf Bruno Ds Anteil zu sprechen. Habe er nicht überlegt, sich dem zu entziehen? – Bruno D. missverstand sie zuerst – „Sie meinen Befehlsverweigerung?“ – und stellte dann seine Möglichkeiten so dar: „Wegmelden gab es nicht.“ Er hätte lieber eine Fabrik „gegen Terror“ bewacht, aber da waren genügend Wächter, so dass „sie uns zum KZ schickten.“ Eine Meldung zur Front „hätte keinen Sinn gemacht, da hätten man sich mehr in Schwierigkeiten gebracht“, er wäre vielleicht in eine Bewährungseinheit gekommen. Anne Meier-Göring fragte hier: „Aber waren Sie nicht in Schwierigkeiten?“ Bruno D. gab an, er habe nicht aussteigen können. Er habe sich nicht zur Front melden können, da er nicht frontdienstfähig sei. (Anmerkung: Bei seiner ersten Einlassung hatte Bruno D. noch erklärt, wie er selber bei der Musterung auf den Gedanken gekommen sei, einen Herzfehler anzugeben, um nicht zur Front zu müssen.)
Anne Meier-Göring erklärte nun, sie wolle Bruno D. zu einem anderen Aspekt befragen. Bruno D habe beim Räumungstransport per Schiff die Häftlinge als nicht-jüdisch identifiziert, wie habe er das erkennen können? Dies könne er nicht genau sagen, er habe das ‚im Gefühl‘ gehabt. Sie seien nicht so „ausgemergelt“ gewesen. – Habe Bruno D. von den Fleckfiebererkrankungen der Juden gewusst? Das sei nur so gesagt worden, es habe keine besonderen Befehle zum eigenen Schutz gegen Fleckfieber gegeben. „Es war mir egal, ob ich dort starb.“Die „Russen“ seien schon in Danzig gewesen und er habe den Verlust seiner Familie befürchtet. Er habe den Kranken und Sterbenden, die er sah, als sie aus den Baracken geholt wurden, nicht helfen können: „Ich bin kein Arzt.“ – Warum die Kranken nicht in ein Spital gebracht wurden, um das Sterben aufzuhalten? Auf diese Frage schwieg Bruno D. Von einem Spital habe er nicht gewusst, dieses nicht gekannt. Als Anne Meier-Göring bemerkte, wenn es kein Krankenhaus gab, müsse ihm doch klar geworden sein, dass man die Menschen sterben lassen wollte, meinte der Angeklagte: „Ja, es muss ein Spital gegeben haben. Damals waren ja auch andere Gefangene da als die Juden, die Politischen. Wenn sie schon keine Juden behandelt haben, hätten sie wenigstens die anderen Gefangenen behandeln müssen.“ Die vorsitzende Richterin: „Wurden denn die jüdischen Gefangenen behandelt?“ Bruno D. wurde nun immer ungehaltener und gereizter: „Sagen Sie mir, wie soll ich das wissen?“ – Eine letzte Nachfrage von Anne Meier-Göring: Sei ihm klar geworden, dass sie starben, weil sie nicht behandelt wurden? – Bruno D. erwiderte: Nein, das Ausmaß sei zu groß gewesen. Man hätte nur Einzelne behandeln können.
Nun wurde eine Pause gemacht. Viel mehr bekam Anne Meier-Göring auch danach nicht aus Bruno D. heraus. Woher wusste er vom Vorrücken der „Russen“? – Radios hätten sie nicht gehabt, er habe nur etwas in seiner Freizeit im Kino in Stutthof erfahren vom Kriegsverlauf durch Wehrmachtsberichte. Was habe Bruno D. von den „Evakuierungen“ mitbekommen? – Nichts. Der Zeuge Dunin-Wasowicz habe jüdische ungarische Familien gesehen, die draußen im Schlamm liegen mussten. – Das habe er nicht gesehen. – Die Richterin hielt ihm vor, er sei bleich geworden, als dies vor Gericht zur Sprache kam, ein Zeichen, dass er sich erinnert habe. – Nein, er habe nie einen Transport gesehen. Er sei über den Bericht erschüttert gewesen.- Dass zwischen Sommer 44 und Januar 45 circa 40-50.000 Häftlinge in Stutthof eingeliefert wurden, konnte sich Bruno D. gar nicht vorstellen, denn er habe nie einen Transport gesehen und auch keine Überfüllung des Lagers wahrgenommen. Bruno D. fiel dazu nur eine Anekdote ein: Einmal habe er zehn Häftlinge alleine mit der Bahn begleitet und ein Häftling habe ein Paket geöffnet, Essen verteilt und auch Bruno D. ein Stück Schinken angeboten, was er abgelehnt habe: „Das wär was Gutes gewesen.“ Anne Meier Göring legte das Heftchen „Richtig – falsch“ vor, welches zur Ausbildung der Wachleute ausgegeben wurde. Bruno D. blätterte die Kopien durch, das kenne er nicht. Vielleicht sei es in der Zeit verteilt worden, als er im Lazarett war. Auf Nachfragen zum Wachdienst erinnerte sich Bruno D. nur einen Morgenappell, Abzählen, durchgeführt von „Kapos“. Er habe nie eine Misshandlung gesehen. Habe nie einen Schuss gehört, keine Hundegebell. Nur einmal habe er Hunde gesehen, da sei ein „Suchkommando“ zurück gekommen. Anne Meier-Göring fragte nun noch nach den Kontakten Bruno Ds zu anderen Wachmännern. Seien fanatische Nazis darunter gewesen? – Nein, die wären ja aufgefallen. Alle hätten nach Hause gewollt statt den „eintönigen Dienst“ zu tun. Einmal seien zwei junge Wachmänner in seine Kompanie dazu gekommen, mit Akkordeon von der Front, vielleicht Tiroler. Sie hätten dann geweint. – Habe er sie nicht gefragt, warum sie weinten? – Nein, aber er weint selber heute, wenn er Unrecht sieht. – Was sei mit „Eintönigkeit“ gemeint, fragte Anne Meier-Göring, auf die dramatischen Ereignisse im KZ anspielend. Bruno D. wich wieder aus. Man habe aufpassen müssen, dass keiner rauskommt. Aber ihm sei nix aufgefallen, „kein Aufruhr, „Ablösung ohne Vorkommnisse“ hieß die Meldung und auch die Toten und das von ihm beobachtete Geschehen in der Gaskammer seien keine „Vorkommnisse“, die man hätte melden müssen. Die Richterin fragte nach, ob es denn keine „Vorkommnisse“ waren, wenn 30 Menschen gestorben waren und auch
nicht, wenn Leute in die Gaskammer geführt wurden. „Das gehörte nicht dazu“, erwiderte der Angeklagte. Es gab noch etliche weitere Nachfragen der Richterin an diesem Tag, bei denen Bruno D. auf seine fehlende Erinnerung verwies. Ob das, wie die Anne Meier-Göring vermutete, daran liegt, dass er diese Bilder, weil schrecklich, verdrängt hat? Hier antwortete der Angeklagte: „Ich habe nichts gesehen.“ Bei den Zuhörern und Zuhörerinnen löste Bruno Ds Erinnerungsverweigerung immer wieder Kopfschütteln aus. An viele Dinge kann er sich noch ganz lebhaft erinnern. Aber nicht an die Vorgänge und Ereignisse , die mit „Schuld“ zu tun haben. Von Strafaktionen bei Appellen, Hinrichtungen am Galgen, Prügelstrafen oder Selektionen will der Angeklagte von seinem Posten aus nichts gesehen haben, auch nichts von Deportationszügen. Er habe kein Hundegebell gehört, er habe auch keinen Schuss gehört in der ganzen Lagerzeit – Nein, weiß nicht. – Zur Frage der eigenen Schuld sagte er nur: „Mir war nicht bewußt, dass ich etwas falsch gemacht habe.“
Nach nun beinahe 2 1/2 Stunden sehr zäher Verhandlung verwies die Richterin auf den nächsten Termin, zu dem ein weiterer Zeuge geladen ist.