An diesem Tag hatte das Gericht Moshe Peter Loth aus Florida geladen. Dieser trat als Zeuge auf, ist zugleich aber auch Nebenkläger.
Loth ist kein Augenzeuge der Geschehnisse im KZ Stutthof, denn er wurde erst 1943 geboren. Die Richterin fragte ihn daher, welche Folgen die KZ-Haft seiner Mutter und sein eigener Aufenthalt im KZ Stutthof für sein Leben hatten.
Moshe Peter Loth erzählte daraufhin, dass seine Großeltern Deutsche waren und in Danzig lebten. Nach den rassistischen Nürnberger Gesetzen galt seine Großmutter als Jüdin. Ihr Ehemann, ein Nazi, ließ seine Ehefrau von der Gestapo ermorden und seine Tochter, Loths Mutter, ins KZ Stutthof bringen. Am 1.3.1943 wurde sie verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt war Loths Mutter bereits im dritten Monat schwanger.
Ein Sohn seines Großvaters habe jedoch im selben KZ als SS-Mann auf der anderen Seite gestanden. Die Nazis führten laut Loth in einer Klinik medizinische Experimente an ihm (als Baby) und der Mutter durch. Der Großvater sei nach dem Krieg in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt hingerichtet worden.
Weshalb galt die Tochter als jüdisch, der Sohn aber nicht? Wer führte wo Experimente zu welchem Zweck durch? Hier wie bei der weiteren Erzählung von Moshe Peter Loth ergaben sich für uns Beobachterinnen zahlreiche Fragen, die offen blieben. 1945 wurde Moshe Peter Loth von der Mutter getrennt und wuchs nach dem Krieg in einem polnischen Waisenhaus auf. Mit 15 Jahren gelangte er zu der Mutter, die in der Bundesrepublik mit einem GI verheiratet war. Später ging das Paar in die USA und nahm den Jungen mit. Vor Gericht erzählte Moshe Peter Loth, dass seine Lebensgeschichte während und nach dem Krieg in Polen und auch noch in den USA von Verlassenheit, (sexueller) Gewalt und Diskriminierung gezeichnet ist. Loth berichtete von zahlreichen traumatischen Erlebnissen. Besonders bedrückend, so Moshe Peter Loth, war für ihn das andauernde Gefühl des Ausgestoßen-Seins und quälende Fragen nach der eigenen Identität: „Bin ich Deutscher oder Pole? Ist meine Familie jüdisch oder nationalsozialistisch?“ Unter dieser Unsicherheit würden seine acht (!) Kinder noch heute leiden.
Mehr zu Moshe Peter Loth Leben in diesem DPA-Bericht: https://www.sueddeutsche.de/panorama/prozesse-hamburg-ehemaliger-ss-wachmann-und-kz-ueberlebender-umarmen-sich-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-191112-99¬688496
In seiner Funktion als Nebenkläger gab die Richterin Moshe Peter Loth anschließend die Gelegenheit, den Angeklagten zu befragen. Loth stellte Bruno D. sodann Fragen nach seiner Bewaffnung als SS-Wachmann, wo er untergebracht gewesen sei u. a. Interessant wurde es, als Loth wissen wollte, wie Bruno D. bei Kriegsende Stutthof verlassen habe. Antwort: Mit einem Schiff und Häftlingen nach Neustadt (Schleswig-Holstein). Bruno D. war sich sicher, dass keine Juden unter den Häftlingen gewesen seien. Die Richterin daraufhin: „Woher wissen Sie, dass keine Juden dabei waren?“ Bruno D.: „Ich konnte keine ‚Judensterne‘ sehen. Vom Gefühl her…“ An einem der vorherigen Verhandlungstage hatte Bruno D. noch ausgesagt, als Wachmann keine Winkel oder sonstige Kennzeichnungen der Häftlinge gesehen zu haben. Nun meinte die Richterin zu ihm: „Darüber müssen wir uns noch mal unterhalten!“ Auf die Frage von Moshe Peter Loth, wie er sich heute fühle, antwortete Bruno D., dass es ihm leid tue, was Loth widerfahren ist. Er sei aber nicht freiwillig in Stutthof gewesen. Er bedauere alles, was passiert ist, habe aber nichts dagegen machen können. Am Ende kam es zu einer Szene, die auf uns verstörend gewirkt hat: Der Überlebende „versöhnte“ sich mit dem ehemaligen SS-Mann. Die Szene gipfelte darin, dass Moshe Peter Loth den Angeklagten vor aller Augen umarmte. „Dadurch befreie ich mich selbst“, erklärte Loth. Nach eigener Aussage ist er Teil der evangelikalen Bewegung „Marsch des Lebens“ (www.marschdeslebens.org).
Die Richterin erklärte am Ende des Verhandlungstages, dass sie noch viele Fragen an Bruno D. hat und dafür weitere Termine einplane. Sie werde ihm Fragen zu folgenden Themenkomplexen stellen: Transporte ungarischer Jüdinnen, „Judenlager“ in Stutthof und Fleckfieber, Freizeitgestaltung der SS-Männer, 1. Kompanie, Verhältnis zu Kameraden und ob Bruno D. die Möglichkeit zur Versetzung gehabt habe.