GEGEN DAS VERGESSEN
Veranstaltung des Auschwitz-Komitees zur Pogromnacht 1938
Donnerstag, 4. November 2021, 19 Uhr
Live-Veranstaltung im Logenhaus (Mozartsäle),
Platz der jüdischen Deportierten, Moorweidenstraße 36, 20146 Hamburg
und mit Gästen
Aufzeichnung des Live-Streams vom 4. November 2021
>>> Zum Beitrag von Prof. Dr. Detlef Garbe, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Eröffnung:
„Was Esther denkt.“ Esther-Rap No. 3
mit Max Lederer (Sprache) und Johannes Hirt (Saxophon).
Mitwirkende:
Éva Fahidi-Pusztai und Andor Andrási aus Budapest
Sylvia Wempner, Rolf Becker
Prof. Dr. Detlef Garbe, Peggy Parnass
Antje Kosemund, Barbara Hüsing und n.n.
Silvia Gingold und Alice Czyborra
Antifa, Schüler:innen
Karl-Heinz Dellwo, Andrea Hackbarth und andere
Susanne Kondoch-Klockow und Helga Obens (Moderation)
Anschließend:
Live-Konzert mit Joram Bejarano und Kutlu Yurtseven,
Bejarano und Microphone Mafia
Do 4. NOV ´21 19.00 Uhr
Mozartsäle im Logenhaus, Moorweidenstraße 36, Hamburg · Platz der jüdischen Deportierten · Mit dem Rollstuhl erreichbar
Veranstaltung unter 2G-Bedingungen. Teilnahme nur bei Nachweis der Vollimpfung oder Bescheinigung einer Genesung (max. sechs Monate zurückliegend). Gefördert durch die Kulturbehörde der FHH. In Kooperation mit dem FSR Sozialökonomie der Universität Hamburg.
Beitrag von Prof. Dr. Detlef Garbe, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Diese Veranstaltung stellt nach meinem Verständnis ein Bindeglied dar. Sie schaut noch mal auf die Zeit „mit Esther“ zurück, dient aber zugleich der Frage, was in der nun vor uns liegenden Zeit, wo sie uns leibhaftig nicht mehr zur Seite steht, in ihrem und unserem Sinne fortgeführt werden kann und soll. Insofern ist es natürlich nun die erste Veranstaltung des Auschwitz-Komitees zum
Gedenken an die Novemberpogrome „ohne Esther“, aber zugleich ist sie mit Ihren Berichten, ihren Gedanken und Überzeugungen, ihrer unermüdlichen Kraft und ihrem Spirit weiterhin hier anwesend. Und ich denke, das wird auch weiterhin so sein.
Lange Zeit war die Arbeit in den Gedenkstätten von der Begegnung mit den Überlebenden geprägt, die bei ihren Besuchen, in Gesprächen und Veranstaltungen nachdrücklich die Erwartung und Hoffnung äußerten, dass die Erinnerung an ihre persönliche Verfolgung und ihre Lebensgeschichte über ihr Ableben hinaus von den Gedenkstätten wahrgenommen werde. Viele Überlebende bekräftigen diesen Wunsch durch Zeichen eines außergewöhnlichen Vertrauens. Sie überließen den Gedenkstätten wichtige Gegenstände, Fotos und Dokumente als Schenkungen. Sie hinterlegten Aufzeichnungen und gaben oft sehr lange lebensgeschichtliche Interviews. Allein die KZ-Gedenkstätte Neuengamme verzeichnet 2000 Interviews mit Überlebenden des Stammlagers und der Außenlager. Mit diesen Zeugnissen haben die Zeitzeuginnen und – zeugen etwas an die Orte der Tat zurückgebracht, das – wäre das Kalkül der SS und der anderen Verantwortlichen aufgegangen – mit ihnen längst vergessen sein sollte. Viele Überlebende hatten und haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Erfahrungen an die kommenden Generationen zu übermitteln. Das ist ihr Vermächtnis für die Zukunft.
Dies ist ein sehr wertvoller Schatz, dessen Bewahrung uns Verpflichtung ist.
Ich bin sehr froh darüber, dass auch der Nachlass von Esther Bejarano, der Überlebenden von Auschwitz und Ravensbrück, der Gründerin des Auschwitz- Komitees für die Bundesrepublik Deutschland, Ehrenpräsidentin der VVN-BdA und seit 2017 auch Vizepräsidentin des Internationalen Auschwitz-Komitees in gute Hände übergeht. Die Aufnahme in das Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ist beabsichtigt, die sachgerechte Erschließung und dann auch die Zurverfügungstellung für öffentliche Nutzungen werden folgen.
Wir alle tragen aber Verantwortung dafür, dass auch Esthers geistiger Nachlass bewahrt, gepflegt und weiter entwickelt wird. Wir alle sind nicht nur sogenannte Zweitzeuginnen und zeugen, jene, die sie persönlich, durch Veranstaltungen oder vielleicht auch nur medial vermittelt kannten, sondern wir alle sind gewissermaßen auch die Nachlassverwalter:innen.
Esther hat uns nicht nur ihre beeindruckenden Erinnerungen und unvergesslichen Veranstaltungen und Begegnungen hinterlassen, sondern hat sehr, sehr viel angeregt und auf den Weg gebracht. Ich nenne nur beispielhaft:
1.) Ihre musikalischen Auftritte und Lieder zusammen mit ihren Kindern Edna und Joram und der Gruppe Coincidence und in den letzten gut zwölf Jahren mit der Microphone Mafia. Bei unzähligen Veranstaltungen im ganzen Land erreichten sie ein insgesamt wohl ein nach Hundertausenden zählendes Publikum und mit ihm auch Menschen, die sich von antifaschistischen Veranstaltungen ansonsten nicht so stark angesprochen fühlen.
2.) Ihren lauten Protest gegen das Wiedererstarken rechtsextremer Kräfte, gegen den Neonazismus und die AfD.
3.) Wir verdanken ihr die mit Ihrem Namen verbundene Kampagne für die Einführung des 8. Mai als gesetzlichen Feiertag. Eine Aktion, die Unterstützung in Gesellschaft und Parlamenten fand auch über die Linke hinaus. In einigen Bundesländern ist der 8. Mai inzwischen zumindest zum landesweiten Gedenktag erklärt, so in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Bremen und Schleswig-Holstein. In Berlin wurde er im letzten Jahr zum 75. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 2020 einmalig als gesetzlicher Feiertag begangen
– was ihm allerdings wegen des Corona-Lockdown nicht so viel Aufmerksamkeit verschaffte wie erhofft.
Und speziell auf Hamburg bezogen, verdanken wir ihr
4.) den Widerspruch gegen die Unterbringung des Dokumentationszentrums denk.mal Hannoverscher Bahnhof in einem Gebäude, das nach Vermietung durch den Eigentümer auch Räume der zukünftigen Hamburger Firmenzentrale des Unternehmens Wintershall Dea aufnehmen wird. Ein Unternehmen, bei der die Vergangenheit der beiden Ursprungsfirmen durch den Zwangsarbeiter- einsatz und einiges mehr eine starke NS-Belastung aufweist.
5.) Des Weiteren möchte ich auf ihren in der neuen antifa, der Zeitschrift der VVN-BdA, posthum veröffentlichten Brief verweisen, mit dem sie ihre Ermutigung an jene richtete, die inzwischen 100 mal Mahnwachen am Ort des früheren Polizeipräsidiums und der norddeutschen Leitstellen von Kripo und Gestapo, dem Stadthaus in Hamburg, durchgeführt haben, um Woche für Woche für einen größeren Informationsort zur Erinnerung an Verfolgung und Widerstand zu demonstrieren.
Auch wenn sicherlich in der einen oder anderen Frage auch andere Akzente begründet gesetzt werden können, so hat die mit der moralischen Autorität ihrer Person verbundene Entschlossenheit antifaschistischen Positionen Gehör verschafft, Debatten und Veränderungen angestoßen, für die wir Esther hier wohl alle sehr dankbar sind.
Esther hat immer wieder betont, dass es unsere Aufgabe sei, Ihren Kampf gegen das Vergessen weiterzuführen und das Vermächtnis der Überlebenden zu bewahren. Dabei war sie von der Zuversicht erfüllt, dass viele junge
Menschen die Botschaft des „Nie wieder“ begriffen hätten und zu ihrem eigenen Anliegen gemacht haben. Dieses Vertrauen, dass Esther wie auch viele andere Überlebende, die ich und wir kennenlernen durften, trotz der Abgründe des am eigenen Leib in der Nazizeit erfahrenen Zivilisationsbruchs, in sich getragen haben, dürfen wir nicht enttäuschen.
Ich möchte nun überleiten zu zwei anderen wunderbaren Menschen, die auch die Nazi-Barbarei und in den Nachkriegsjahrzehnten den Verdrängungswillen in unserem Staat erlebt haben. Auch sie beide mutige Kämpferinnen gegen das Vergessen: Antje Kosemund, die uns nun wieder in Hamburg zur Seite steht, hat unendlich viel bewirkt zur Aufarbeitung der Euthanasieverbrechen. Antje, deren zwei Jahre jüngere Schwester Irma im August 1943 zusammen mit 227 anderen Patientinnen aus der kirchlichen Obhut der Alsterdorfer Anstalten nach Wien deportiert und dort einige Monate später ermordet wurde, Antje verdanken wir es besonders, dass heute der jahrzehntelang verleugneten Opfer in Hamburg gedacht und im Medizinhistorischen Museum des Universitätsklinikum Eppendorf über die in der Nazizeit verübten ärztlichen Verbrechen aufgeklärt wird.
Und nun zu Peggy Parnass, seit Jahrzehnten in den politischen Kämpfen um Gleichberechtigung, gegen Homophobie, gegen Rassismus und Antisemitismus eine unverzichtbare Stimme. Ich habe Peggy zuletzt in der vergangenen Woche gehört, als sie in der ehemaligen Reit- und Exerzierhalle der Viktoriakaserne von ihrer Mutter Hertha und ihrem Vater Simon, der stets Pudl genannt wurde, berichtete. Im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ frühmorgens am 28. Oktober 1938 von der Hamburger Polizei verhaftet, sah Peggy ihren Vater in jener Halle, in der sie nun 83 Jahre später davon berichtete, zum letzten Mal. Für die ungefähr einhundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vom Kirchenkreis Hamburg-West und der fux-Genossenschaft ausgerichteten Veranstaltung, die der Opfer dieser frühen, noch immer weitgehend unbekannten Deportation staatenloser Menschen jüdischer Herkunft ins polnische Grenzgebiet gedachten, war dein beeindruckender Bericht eine sehr bewegende Erfahrung. Vielen Dank euch beiden. Wir sind gespannt darauf, was ihr uns zu sagen habt.