Rede von Helga Obens, Auschwitz-Komitee am 8. Juli 2022 im Stavenhagenhaus (es gilt das gesprochene Wort)
Ohne Esther hier im Stavenhagenhaus zu stehen und über Esther Bejarano zu sprechen fällt mir schwer.
In diesem Saal stand Esther zuletzt im Januar 2021 für eine Aufzeichnung für die Tagesthemen.
Sie war gerade krank gewesen, aber hier wollte sie trotzdem sprechen. Und es sollte, so ihr ausdrücklicher Wunsch, ihre beste, ihre wichtigste Rede werden. Sie hatte so unendlich wichtige Botschaften! Und wollte, dass sie gehört werden …
Ich hab in meinen Kalender geschaut: Am 25. Januar 2021 von 14 bis 16 Uhr stand sie hier im Saal – hielt hier ihre Rede zum 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz. Gesendet wurde sie von der ARD nach den Tagesthemen am Holocaust-Gedenktag. Als wir ankamen, hatte die NDR-Redaktion schon Teleprompter, Scheinwerfer etc. aufgebaut. Und wieder war es der Respekt vor dieser kleinen, großen Frau: Esther durfte „überziehen“, statt der vorgesehenen drei Minuten wurden drei weitere dazugegeben. Diese denkwürdige Aufnahme ist immer noch in der ARD-Mediathek anzusehen. Ich weiß nicht, wie viele Millionen Zuschauer ihre Worte inzwischen gehört haben.
Esther B. ist überall gegenwärtig:
Gerade wurde in Bergedorf der Esther-Bejarano-Preis verliehen, in Hamburg Mitte auch, im Saarland und auch in ihrer Geburtsstadt Saarlouis, in Baden-Württemberg sind Schulen und Preise nach ihr benannt. Hier in Hamburg wird demnächst eine Straße ihren Namen tragen.
Aber eines war Esther immer besonders wichtig:
In einem offenen Brief an die Regierenden zum 27. Januar 2020 hatte Esther gemeinsam mit dem Auschwitz-Komitee gefordert:
Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom
NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten.
Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken:
Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.
Den 8. Mai zum Feiertag zu machen hatte in den vergangenen Jahrzehnten auch die VVN – BdA gefordert, deren Ehrenvorsitzende Esther war. Aber jetzt wurde die Forderung gehört und von vielen Seiten unterstützt – auch durch Aktionen und Manifestationen. Esther hat sich darüber gefreut.
Am Ort ihrer Befreiung im mecklenburgischen Lübz nach dem Todesmarsch haben wir am 3. Mai gerade erinnert an Esther Bejaranos Auftrag: Genau dort, wo Esther Bejarano auf einem Akkordeon gespielt und gemeinsam mit ihren Befreiern gesungen hat, mitten auf dem Marktplatz.
Und immerhin: in Hamburg werden wir jetzt den 8. Mai als offiziellen „Ge-Denktag“ begehen, das hat die Hamburgische Bürgerschaft beschlossen. In weiteren sechs Bundesländern ist das auch so entschieden worden. Ein wichtiger Schritt – aber Esthers und unsere Forderung nach einem FEIERTAG bleibt, das haben wir in den Gesprächen mit den Vorsitzenden der Parteien der Hamburgischen Bürgerschaft deutlich erklärt.
77 lange Jahre hat dieser Beschluss gebraucht. Wir waren sehr geduldig. Esther hat einmal gesagt:
Es hat lange gedauert bis ich in der Lage war, über mein Leben in nazistischer Gefangenschaft zu erzählen. Ein großes Glück für mich ist, dass ich deutsche Menschen kennenlernen durfte, die Widerstand in der Nazizeit leisteten, Menschen, die auch in KZs oder in Gefängnissen gefoltert wurden. Zu ihnen hatte ich Vertrauen. […] Diese Menschen machten mir Mut und halfen mir, meine Erlebnisse [in Schulen] zu erzählen.
Und das hat sie getan, unermüdlich, überall, aber ganz besonders gern sprach sie mit jungen Leuten, mit Schüler:innen. Auch in ihrem letzten Lebensjahr noch. Sie wurde überall gebraucht, diese Mutmacherin – unsere EHRENANTIFA, die Anstifterin, unser „Krümel-Kraftwerk“ (nach ihrem Necknamen), wie sollten wir da schweigen? Wie viele Lesungen, Demonstrationen, Zeitzeug:inneninterviews und Pressetermine waren das wohl für sie in den letzten Jahrzehnten? Viele Jahre hat sie gemeinsam gesungen mit Edna, ihre Tochter, später dann mit ihrem Sohn Joram und Microphone Mafia.
Sie, über die in den Medien zu ihrem 90. Geburtstag stand: „Das Mädchen mit der Nummer 41948“ –- „Auch mit 90 Jahren kämpft Esther Bejarano gegen das Vergessen und rappt gegen rechts“ (dpa/HA v. 15.12.2014). So war es zu lesen in einem Bericht über ihre Geburtstagsfeier mit mehr als 200 Menschen hier – im Stavenhagenhaus im Dezember 2014.
Esthers Worte und Lieder bewegten und erreichten die Menschen. Wir vermissen sie.
Aber ich bin dankbar für jeden Tag, an dem ich sie gekannt habe. Uns „Nachgeborenen“ half sie, unsere Fassungslosigkeit über die Verbrechen der Nazizeit erst in Zorn und Wut, dann in Taten umzuwandeln, in ein „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“
Krieg in der Ukraine – das Nachbarland Russland wirft Bomben auf ukrainische Städte. Menschen sterben. Unter ihnen auch der 96-jährige Boris Romanchenko, der vier Konzentrationslager der Nazis überlebte. Bei einem russischen Luftangriff auf Charkiw wurde er getötet. Krieg, Tod, Vertreibung! Völkerrecht und Menschenrechte werden missachtet. Wer hat sich das je vorstellen können?
Nein, wir wollen nicht lernen, die Bombe zu lieben! Und auch keine Panzer! „Naiver“ Pazifismus? Aber was hätten Esther Bejarano, Steffi Wittenberg, Elsa Werner und die anderen Überlebenden getan? Sie hätten Protestbriefe geschrieben und Appelle verfasst, wie immer, wenn sie Unrecht ausmachten. Briefe an den russischen Präsidenten, Briefe an Kriegstreiber, Briefe an Pazifisten und an Bellizisten. Sie hätten die UN zum Handeln aufgefordert: VERHANDELT!!!!, hätten sie gefordert – mit der Kraft der Autorität der Überlebenden der Shoah. Ihnen wurde endlich zugehört, endlich, seit einigen Jahren jedenfalls – das war ein langer, langer Weg – bis auch Öffentlichkeit und Politik ihre Bedeutung, ihre Autorität, ihren Einfluss erkannten (…). Ein Blick in die bundesdeutsche Geschichte klärt dazu auf.
Ja. Esther war Politikerin. Sie war Influencerin. Sie war ein Mensch, der die Menschen liebte.
Und sie mischte sich ein: „Wir sind alle Antifa, wir sind alle Antifaschist:innen“, sagte sie, als von „so genannter Antifa“ gesprochen wurde. Sie mischte sich ein bei den Auseinandersetzungen um die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA. Und bei der Aufnahme und dem Schutz der Geflüchteten / „Open the Hotels“ und in die Auseinandersetzung um die Gedenkorte.
Klare Worte, direkte Ansprache, offene Briefe, die nicht folgenlos bleiben.
Das war die „öffentliche“ Esther Bejarano.
Dieser Saal hier im Stavenhagenhaus ist in der Tat ein magischer Ort. Esther bezeichnete ihn gern als ihr „öffentliches Wohnzimmer“. Feierte hier wunderbare Geburtstagsfeste mit Freunden und Freundinnen. Hier war Treffpunkt für Überlebende der Shoah, für NS-Verfolgte, viele Jahre lang. Und sehr, sehr viele Freund:innen haben Esther dabei unterstützt.
Wenn ich die Bilder anschaue, geht mir das Herz auf … Hier nur einige stellvertretende Beispiele:
2004: Der 80. Geburtstag – Peter Gingold, ihr alter Weggefährte, sagte ihr hier: „DAS BESTE KOMMT NOCH!“. Die ungebrochene Zuversicht sprach daraus.
2014: Der 90. Geburtstag: Esther wünschte sich (natürlich über die Medien verbreitet) „… dass keine Nazis mehr rumlaufen.“
2019: Der 95. Geburtstag … so viele Menschen … ein schier nicht enden wollendes Musikprogramm … Worte, Lieder, Gratulanten – dazwischen eine glücklich-erschöpfte Esther, die mit ihrer Tochter Edna zusammen gesungen und dann sogar noch in der Diele getanzt hat.
2020: Der 96. Geburtstag im Corona-Jahr konnte nicht groß gefeiert werden – aber ein schönes Buch für Esther mit hunderten Wünschen ihrer Freundinnen und Freunde ist entstanden.
So gern hat Esther im Freundeskreis auch ihre legendären Gartenfeste gefeiert. Aber es war zu oft Zeit für Empörung, für Zorn, wenn sie gesehen hat, wie die alten und neuen Nazis wieder laut sind.
„Dann“, sagte sie „geh ich auf die Barrikaden.“ Sie musste einfach dagegen kämpfen, sagte:
„Ich singe, bis es keine Nazis mehr gibt!“
DAS müssen wir nun tun …
Und was ich auch noch sagen wollte: Der Bezirk Nord und Gesellschaft der Freunde des Stavenhagenhauses, der Kommunalverein Groß Borstel und jetzt auch die Initiative Marcus und Dahl haben ehrenamtlich und in der Tat gemeinnützig diesen Saal viele Jahre immer wieder zur Verfügung gestellt. Danke dafür.