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Wir trauern um Éva Fahidi (1925-2023)

Erstellt am 14. September 202330. Oktober 2023 von Auschwitz-Komitee

Ich sage immer: Wir, die auf der Rampe zum Leben „verurteilt“ wurden – auf einmal sind wir dagestanden, kahlgeschoren, splitternackt. Alle Auschwitz-Überlebenden müssen etwas im Leben mit diesem Trauma anfangen. Wir wollen nicht hassen, einfach aus diesem Grund: weil wir unsere Seele nicht mit dem Hass beflecken wollen. Wir haben die Auseinandersetzung entdeckt! Aber verzeihen können wir nicht! Und wollen wir nicht!

Éva Fahidi im November 2022 auf einer Veranstaltung des Auschwitz-Komitees zur Pogromnacht am 9. November 1938.

Wir müssen Abschied nehmen von unserer Freundin Éva Fahidi, dieser außergewöhnlichen warmherzigen und weisen Frau. Am 11. September 2023 starb sie im Alter von 97 Jahren in Budapest.

Teilnehmende der Generalversammlung 2017 des Internationalen Auschwitz Komitees, v.l.n.r.: Marian Turski, Christoph Heubner, Eva Fahidi, Esther Bejarano, Felix Kolmar und Roman Kent vor der Todesmauer im KZ Auschwitz, © Auschwitz-Komitee in der BRD
Teilnehmende der Generalversammlung 2017 des Internationalen Auschwitz Komitees, v.l.n.r.: Marian Turski, Christoph Heubner, Eva Fahidi, Esther Bejarano, Felix Kolmar und Roman Kent vor der Todesmauer im KZ Auschwitz © Auschwitz-Komitee in der BRD

1925 im ostungarischen Debrecen geboren, erlebte Éva eine wohl behütete Kindheit in ihrer großen jüdischen Familie. Zuhause wurde deutsch gesprochen, die sportliche 18-Jährige wollte Pianistin werden. Doch im März 1944, nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht und SS-Einheiten, veränderte sich ihr Leben für immer: Im April wurde ihre Familie ins Ghetto gezwungen, am 27. Juni 1944 dann in Viehwaggons in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Auf der Rampe wurde sie von ihrer Familie und ihrer kleinen Schwester Gilike getrennt, der berüchtigte Dr. Mengele schickte Éva mit einer Handbewegung ins Arbeitslager.

Entwürdigung, Hunger, Durst und unvorstellbare Qualen bestimmten nun ihr Leben. Sie musste die Räumung des sogenannten Zigeunerlagers am 3. und 4. August mit ansehen. 3000 Menschen wurden innerhalb weniger Stunden ermordet.

Mit vier Freundinnen wurde sie am 13. August nach Allendorf in ein Außenlager des KZ Buchenwald verschleppt. Sie mussten Granaten verpacken, Sklavenarbeit, die physische und seelische Folter hinterließ Narben, lebenslang.

Befreit wurde Éva im März 1945, unterwegs brach sie zusammen, wurde von ihren Freundinnen getrennt. Amerikanische Soldaten fanden sie und brachten sie zu Bauern, die sie versorgten. Am 4. November 1945 kam Éva zurück nach Debrecen, 18 Monate nach ihrer Deportation. In ihrem Elternhaus wohnten jetzt ihr fremde Menschen. Es war dort kein Platz mehr für sie. Niemand aus ihrer Familie kam zurück, weder die Eltern noch ihre kleine Schwester oder andere Familienmitglieder. Erst viel später hat sie erfahren: 49 ihrer Verwandten waren in der Shoah ermordet worden.

Im Jahr 1990 hatte der Magistrat von Stadtallendorf (ehemals: Allendorf) 1000 ehemalige Zwangsarbeiterinnen eingeladen, Ungarinnen, die im Lager Münchmühle, einer Außenstelle des KZ Buchenwald, in den Munitionsfabriken Sklavenarbeit verrichten mussten. Éva nahm die Einladung an und traf dort auch einige ihrer Freundinnen wieder.

Fast 60 Jahre hatte sie geschwiegen, sprach nicht über ihre traumatischen Erlebnisse. 2003 besuchte die Gedenkstätte KZ Auschwitz. Jetzt begann sie zu sprechen, sagte, dass sie am Leben geblieben sei, um der Welt zu erzählen, was in Auschwitz geschehen war. Nie wieder dürfe so etwas passieren.

Am 27. März 2004 dann, so schrieb sie, erlebte sie zum ersten Mal, dass Menschen ihr zuhörten, wenn sie vom Holocaust sprach: Auf Bitten des Magistrats von Stadtallendorf hatte sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben und in der Stadthalle dort daraus gelesen.

Überhaupt, die Ehrungen: 2012 war ihr bereits das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen worden, 2014 wurde sie Ehrenbürgerin von Stadtallendorf, 2020 der Stadt Weimar.

Gemeinsam mit Esther Bejarano haben wir uns 2014 in Berlin bei einer Buchvorstellung kennengelernt. Esther und Éva umarmten sich, zwei Frauen, die genau wussten, was die andere fühlte und erlebt hatte, die wussten von den Albträumen in der Nacht. Später, 2015, sind wir uns in Lüneburg beim Auschwitz-Prozess wieder begegnet. Éva war eine Nebenklägerin im Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning, den „Buchhalter“ von Auschwitz.

Das Jahr 2015 begann für Éva Fahidi mit einer Rede zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, im deutschen Bundestag. Im Oktober 2015 stand sie zum ersten Mal in Budapest auf der Bühne – mit dem Tanztheater „Sea Lavender – Or the Euphoria of Being“, einer berührenden Inszenierung ihres Lebens mit einer jungen Tänzerin. Éva erklärte das so:

„Seit 2004 rede ich meinen Holocaust aus mir heraus. Täte ich es nicht, wäre ich im Irrenhaus. Mit dem Tanz kann man sich ganz genau ausdrücken.“

Und am 5. November 2015 war sie bei uns in Hamburg zu Gast. Zur Erinnerung an die Pogromnacht 1938 haben die beiden Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und Éva Fahidi im völlig überfüllten Hörsaal 1 der Universität Hamburg ihre ganz persönlichen, biografisch geprägten Antworten gegeben zur Frage nach der juristischen Aufarbeitung, den juristischen Absurditäten und der politisch motivierten Ausdeutung des Rechts zugunsten der Täter*innen. Endlich wurden Auschwitz-Überlebende und deren Angehörige vor einem deutschen Gericht gehört. „Es geht nicht um Strafe“, sagte Éva Fahidi an diesem Abend, „es geht um das Urteil.“

Und selbst in Pandemie-Zeiten hat Éva an zwei weiteren Veranstaltungen des Auschwitz-Komitees teilgenommen, per Livestream, immer mit Unterstützung durch ihren Begleiter Andor Andrási und umgeben von guten Freund*innen.

Begegnet sind wir uns auch in der Gedenkstätte KZ Auschwitz bei den Generalversammlungen des Internationalen Auschwitz-Komitees 2017 und im September 2022, zuletzt im Oktober 2022 an einem Liederabend für Éva in der Hamburger Kunsthalle.

Trauer und Sehnsucht nach den liebsten Menschen, ihrer kleinen Schwester, ihren Eltern, ihren ermordeten Verwandten, haben Éva immer begleitet. Aber sie wollte nicht hassen, Vorurteile nicht gelten lassen. Éva hatte sich entschieden, dem Hass, dem ewigen Hass keinen Platz in ihrem Leben zu geben. Sie kämpfte für Demokratie und Menschenrechte. Im Sinne eines NIE WIEDER FASCHISMUS – NIE WIEDER KRIEG! hat sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten von dem berichtet, was sie erlebt hatte – in Schulen, auf Bühnen, in Parlamenten. Für Éva stand fest: Eine andere Welt ist möglich. Sie bewegte und berührte die Menschen. Wir danken dieser großen, weisen, herzlichen Frau, die sich gegen den Hass entschieden hatte. Wir werden sie vermissen.

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass die Erfahrung meiner Generation in Vergessenheit gerät. Dann wären alle Opfer des Faschismus und des Krieges, alles, was wir erlitten haben, umsonst gewesen. Aber ihr seid da. Wir bauen auf euch. Ich vertraue euch, liebe Freundinnen und Freunde! Eine bessere Welt ist möglich.

Esther Bejarano - 6. September 2019

Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.

Esther Bejarano

Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus.

Esther Bejarano - 25. November 2019

Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.

Esther Bejarano - 17. November 2015

Wir können froh sein, dass wir eine Antifa haben.

Esther Bejarano - 16. Dezember 2019

Um den Antisemitismus zu stoppen, müssen wir neue Wege gehen und immer und immer wieder miteinander reden, über alles nachdenken und richtig miteinander reden über das, was wir erreichen wollen.

Peggy Parnass - 10. Januar 2021

Den Faschismus an seiner Wurzel zu packen, ganz frei und offen die Probleme anzusprechen, und dennoch voller Respekt vor der Würde und Freiheit der Anderen – das ist eine der großen Aufgaben, an denen die Gesellschaft auf Gedeih und Verderb nicht scheitern darf.

Esther Bejarano - 24. Januar 2021

Solidarisch gegen den Hass. Wir sagen: Wir sind nicht allein. Wir sind viele. Macht mit, denn wer schweigt, stimmt zu! Wegsehen ändert nichts. Schaut hin – handelt!

Esther Bejarano - 5. Februar 2017

Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Esther Bejarano - 26. Januar 2020

Der 8. Mai ist ein Tag der Hoffnung, ein Tag des Nachdenkens!

Esther Bejarano - 26. Januar 2020

Der 8. Mai muss ein Feiertag werden. Arbeiten wir daran!

Esther Bejarano - 3. Mai 2021

"Erinnern heißt handeln" bedeutet für mich, für uns, heute aktiv zu sein, uns mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen, bevor es wieder zu spät ist für eine Gegenwehr gegen rechts.

Esther Bejarano - 3. Januar 2019

Ich habe versprochen:
Ich werde mein ganzes Leben dafür kämpfen, dass es keine Faschisten, keine Nazis mehr gibt. Nirgendwo.

Esther Bejarano

Bitte, bitte schweigt nicht, wenn ihr Unrecht seht.
Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten!
Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch!
Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!

Esther Bejarano - 3. Mai 2021

Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir:
Nie mehr schweigen, wegsehen wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten!
Erinnern heißt handeln!

Esther Bejarano

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass die Erfahrung meiner Generation in Vergessenheit gerät. Dann wären alle Opfer des Faschismus und des Krieges, alles, was wir erlitten haben, umsonst gewesen.
Aber ihr seid da. Wir bauen auf euch. Ich vertraue euch, liebe Freundinnen und Freunde! Eine bessere Welt ist möglich!

Esther Bejarano - 6. September 2019

Ich appelliere an alle Menschen:
Bitte, bitte schweigt nicht
wenn ihr Unrecht seht.

Esther Bejarano

Ich werd’ so lange singen, bis es keine Nazis mehr auf der Welt gibt.

Esther Bejarano

Zum Nachlesen

  • Der Stutthof-Prozess

Seiten

  • Benennung des Saales im Stavenhagenhaus nach Esther Bejarano (1924-2021), Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück
  • Frieden jetzt!
  • Gedenkseite für Esther Bejarano
  • Im Wortlaut: „Vermächtnis der Überlebenden“
  • Vielen Dank allen Unterstützer*Innen
  • Zur Arbeit des Auschwitz-Komitees in der BRD e.V.

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