Rede von Helga Obens, Auschwitz-Komitee, am Antikriegstag 01.09.2022 auf der DGB-Kundgebung vor dem Gewerkschaftshaus Hamburg.
Liebe Freund:innen, liebe Kolleg:innen,
unsere Welt heute fühlt sich falsch an – so, als wären wir am 24. Februar 2022 morgens im falschen Jahrhundert aufgewacht.
Krieg in der Ukraine – das Nachbarland Russland wirft Bomben auf ukrainische Städte. Menschen sterben. Krieg, Tod, Vertreibung! Völkerrecht und Menschenrechte werden missachtet. Wer hat sich das je vorstellen können?
Was ist aus unseren Hoffnungen geworden? Was ist schiefgelaufen? Wer fühlt sich bedroht? Durch wen? Ein Krieg in Zeiten des Kampfes gegen die Klimakrise! Ein Man-made-Desaster.
Alles verloren? Wir, meine Generation, wir hofften, dass eine andere Welt möglich ist. Nach 1968, nach dem Vietnamkrieg, nach Chile, den Befreiungsbewegungen überall. Wir brauchten einen langen Atem: auf ungezählten Demos, ungezählten Kilometern auf den Straßen, bei Aktionen. In den frühen 1980er Jahren, als in Bonn und anderswo Hunderttausende gegen Atombewaffnung demonstrierten. Bei Anti-AKW-Protesten und dann – Tschernobyl. Ausnahmezustand. Cäsium in der Milch für unsere Kinder, das Gras war verseucht, draußen zu spielen gefährlich. Wir wollen doch nur, dass alle, auch unsere Kinder und Enkel ohne Angst und ohne Kriege leben können. Schlimm genug, dass wir ihnen eine vergiftete Welt hinterlassen würden. Und einen „Schein-Frieden“. Denn die Kriege im Irak, in Libyen, in Afghanistan, in Syrien schienen weit entfernt, der Jugoslawienkrieg auch.
Nein, wir wollen nicht lernen, die Bombe zu lieben! Und auch keine Panzer! Und wollen uns schon gar nicht an Summen wie 100 Milliarden Euro für Hochrüstung gewöhnen. Was hätten Esther Bejarano, Steffi Wittenberg, Elsa Werner, Peter Gingold und die anderen Überlebenden der Shoah jetzt getan? Sie hätten Protestbriefe geschrieben und Appelle verfasst, wie immer, wenn sie Unrecht ausmachten. Briefe an den russischen Präsidenten, Briefe an Kriegstreiber, Briefe an Pazifisten und an Bellizisten. Sie hätten die UN zum Handeln aufgefordert: VERHANDELT!!!!, hätten sie gefordert – mit der Kraft der Autorität der Überlebenden der Shoah. Ihnen wurde endlich zugehört, endlich, seit einigen Jahren jedenfalls – das war ein langer, langer Weg – bis auch Öffentlichkeit und Politik ihre Bedeutung, ihre Autorität, ihren Einfluss erkannten.
Vier Tage nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine haben wir gemeinsam mit den Mitgliedern der internationalen Komitees und der nationalen Vereinigungen der Nazi-Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Buchenwald-Dora, Flossenbürg, Natzweiler-Struthof, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen folgenden Aufruf unterzeichnet:
„Beenden Sie diesen Krieg sofort!“
„Als Hüter des Andenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und an die Werte, die sie – viele bis zum Tod – verteidigt haben, erklären wir […] Folgendes:
Unter den sowjetischen Überlebenden der Nazilager, […] waren oft Russ:innen und Ukrainer:innen am zahlreichsten. Sie teilten mit allen die Hoffnung, Zeugen und Akteure einer neuen, befreiten und friedlichen Welt zu werden. […] waren denselben Entbehrungen, Demütigungen und lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt gewesen. Sie konnten sich nur auf die Solidarität unter den Deportierten verlassen, um zu überleben. Alle hatten als Bürger:innen der Sowjetunion ihren Teil am gemeinsamen Kampf gegen den Nazi-Aggressor beigetragen.
Neue Staaten sind entstanden, aber die gemeinsame Geschichte und die durch die Geschichte geknüpften menschlichen Bindungen machen nicht an nationalen Grenzen halt. […] “diese wiedergewonnene Freiheit [gehörte] allen Völkern […].
Wir verurteilen die Verwendung der Worte Entnazifizierung und Völkermord zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine. […]
Das Testament der Frauen von Ravensbrück […], die Schwüre und Manifeste von Buchenwald, Mauthausen – Versprechen, die an den Orten der gerade befreiten Lagern gegeben wurden – in Ravensbrück, Dachau und Neuengamme rufen zu einer friedlichen Koexistenz aller Völker in Frieden, Demokratie und nationaler Souveränität auf.
Wir verurteilen den gegen die Ukraine geführten Krieg, der die Existenz des Landes und den Frieden in Europa gefährdet. […] Wir sind […] überzeugt, dass jeder politische Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden kann, wenn beide Seiten Vernunft und Menschlichkeit an den Tag legen. Beenden Sie diesen Krieg sofort!“ (Soweit der Aufruf vom 28. Febr. 2022).
Im April 2015 hatte der Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, Boris Romanchenko, auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Buchenwald das Gelöbnis der befreiten Überlebenden in russischer Sprache wiederholt: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal!“ Mit 16 Jahren war er aus der nördlichen Ukraine verschleppt worden, hatte vier KZ überlebt. Am 18. März 2022 wurde seine Wohnung im 8. Stock eines Hauses in Charkiw bombardiert. Boris Romanchenko hat das nicht überlebt.
Für eine Welt des Friedens, gegen Kriege – das ist die Daueraufgabe von uns allen, den Gewerkschafter:innen und allen Menschen hierzulande.
- Gemeinsam kämpfen – und die gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Kämpfe verbinden,
- gemeinsam stehen gegen rechts, gegen Neonazis, gegen Faschismus, gegen Ethnonationalismus,
- gemeinsam die Verantwortung übernehmen für den Planeten Erde und die Menschen, die drauf wohnen. Und Waffenhandel und Kriege ächten. Für ein atomwaffenfreies Deutschland, keine Atomwaffen sollen hier gelagert werden, Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag! DAS BLEIBEN VORDRINGLICHE AUFGABEN!!
Was können wir tun?
Am Sonntag fahren wir mit einer Delegation des Auschwitz-Komitees zur Generalversamm-lung des Internationalen Auschwitz-Komitees in die Gedenkstätte KZ Auschwitz in Oświęcim. Vertreter:innen von europäischen KZ-Lagergemeinschaften treffen sich dort alle paar Jahre. Und wir werden dort auch an David Dushman erinnern. Geboren in der heutigen Ukraine, war er einer der sowjetischen Befreier im Januar 1945. Er hat „mit seinem Panzer den Zaun des KZ Auschwitz niedergewalzt“, wie er in einem Interview zum 8. Mai 2021 einer Antifagruppe sagte. Kurz darauf ist er, wohl der letzte noch lebende Befreier von Auschwitz, in München gestorben. Viele Jahre war er Trainer der sowjetischen Olympia-Mannschaft im Fechten. Das Interview ist noch auf unserer Webseite zu sehen und zu hören.
Wir hoffen, dass wir uns in der Gedenkstätte KZ Auschwitz auf einen gemeinsamen Appell einigen mit der Forderung nach sofortigem Waffenstillstand, nach Friedensverhandlungen! Es ist Zeit für Diplomatie. Sieger wird es in diesem Krieg nicht geben.
Nie wieder Auschwitz! Wir brauchen einen umfassenden, radikalen Humanismus! Wir müssen militant für die Ideale von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und der Befreiung der Menschen eintreten, wir müssen handeln, als wäre unser Ziel greifbar nah.
Wir müssen uns weigern aufzugeben – wir müssen uns weigern, den Frieden aufzugeben!
Was bleibt? Esther Bejarano hat uns allen einen Auftrag erteilt:
“Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht.
Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig!
Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch!
Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!”
(Es gilt das gesprochene Wort)