Ich sage immer: Wir, die auf der Rampe zum Leben „verurteilt“ wurden – auf einmal sind wir dagestanden, kahlgeschoren, splitternackt. Alle Auschwitz-Überlebenden müssen etwas im Leben mit diesem Trauma anfangen. Wir wollen nicht hassen, einfach aus diesem Grund: weil wir unsere Seele nicht mit dem Hass beflecken wollen. Wir haben die Auseinandersetzung entdeckt! Aber verzeihen können wir nicht! Und wollen wir nicht!
Éva Fahidi im November 2022 auf einer Veranstaltung des Auschwitz-Komitees zur Pogromnacht am 9. November 1938.
Wir müssen Abschied nehmen von unserer Freundin Éva Fahidi, dieser außergewöhnlichen warmherzigen und weisen Frau. Am 11. September 2023 starb sie im Alter von 97 Jahren in Budapest.
1925 im ostungarischen Debrecen geboren, erlebte Éva eine wohl behütete Kindheit in ihrer großen jüdischen Familie. Zuhause wurde deutsch gesprochen, die sportliche 18-Jährige wollte Pianistin werden. Doch im März 1944, nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht und SS-Einheiten, veränderte sich ihr Leben für immer: Im April wurde ihre Familie ins Ghetto gezwungen, am 27. Juni 1944 dann in Viehwaggons in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Auf der Rampe wurde sie von ihrer Familie und ihrer kleinen Schwester Gilike getrennt, der berüchtigte Dr. Mengele schickte Éva mit einer Handbewegung ins Arbeitslager.
Entwürdigung, Hunger, Durst und unvorstellbare Qualen bestimmten nun ihr Leben. Sie musste die Räumung des sogenannten Zigeunerlagers am 3. und 4. August mit ansehen. 3000 Menschen wurden innerhalb weniger Stunden ermordet.
Mit vier Freundinnen wurde sie am 13. August nach Allendorf in ein Außenlager des KZ Buchenwald verschleppt. Sie mussten Granaten verpacken, Sklavenarbeit, die physische und seelische Folter hinterließ Narben, lebenslang.
Befreit wurde Éva im März 1945, unterwegs brach sie zusammen, wurde von ihren Freundinnen getrennt. Amerikanische Soldaten fanden sie und brachten sie zu Bauern, die sie versorgten. Am 4. November 1945 kam Éva zurück nach Debrecen, 18 Monate nach ihrer Deportation. In ihrem Elternhaus wohnten jetzt ihr fremde Menschen. Es war dort kein Platz mehr für sie. Niemand aus ihrer Familie kam zurück, weder die Eltern noch ihre kleine Schwester oder andere Familienmitglieder. Erst viel später hat sie erfahren: 49 ihrer Verwandten waren in der Shoah ermordet worden.
Im Jahr 1990 hatte der Magistrat von Stadtallendorf (ehemals: Allendorf) 1000 ehemalige Zwangsarbeiterinnen eingeladen, Ungarinnen, die im Lager Münchmühle, einer Außenstelle des KZ Buchenwald, in den Munitionsfabriken Sklavenarbeit verrichten mussten. Éva nahm die Einladung an und traf dort auch einige ihrer Freundinnen wieder.
Fast 60 Jahre hatte sie geschwiegen, sprach nicht über ihre traumatischen Erlebnisse. 2003 besuchte die Gedenkstätte KZ Auschwitz. Jetzt begann sie zu sprechen, sagte, dass sie am Leben geblieben sei, um der Welt zu erzählen, was in Auschwitz geschehen war. Nie wieder dürfe so etwas passieren.
Am 27. März 2004 dann, so schrieb sie, erlebte sie zum ersten Mal, dass Menschen ihr zuhörten, wenn sie vom Holocaust sprach: Auf Bitten des Magistrats von Stadtallendorf hatte sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben und in der Stadthalle dort daraus gelesen.
Überhaupt, die Ehrungen: 2012 war ihr bereits das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen worden, 2014 wurde sie Ehrenbürgerin von Stadtallendorf, 2020 der Stadt Weimar.
Gemeinsam mit Esther Bejarano haben wir uns 2014 in Berlin bei einer Buchvorstellung kennengelernt. Esther und Éva umarmten sich, zwei Frauen, die genau wussten, was die andere fühlte und erlebt hatte, die wussten von den Albträumen in der Nacht. Später, 2015, sind wir uns in Lüneburg beim Auschwitz-Prozess wieder begegnet. Éva war eine Nebenklägerin im Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning, den „Buchhalter“ von Auschwitz.
Das Jahr 2015 begann für Éva Fahidi mit einer Rede zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, im deutschen Bundestag. Im Oktober 2015 stand sie zum ersten Mal in Budapest auf der Bühne – mit dem Tanztheater „Sea Lavender – Or the Euphoria of Being“, einer berührenden Inszenierung ihres Lebens mit einer jungen Tänzerin. Éva erklärte das so:
„Seit 2004 rede ich meinen Holocaust aus mir heraus. Täte ich es nicht, wäre ich im Irrenhaus. Mit dem Tanz kann man sich ganz genau ausdrücken.“
Und am 5. November 2015 war sie bei uns in Hamburg zu Gast. Zur Erinnerung an die Pogromnacht 1938 haben die beiden Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und Éva Fahidi im völlig überfüllten Hörsaal 1 der Universität Hamburg ihre ganz persönlichen, biografisch geprägten Antworten gegeben zur Frage nach der juristischen Aufarbeitung, den juristischen Absurditäten und der politisch motivierten Ausdeutung des Rechts zugunsten der Täter*innen. Endlich wurden Auschwitz-Überlebende und deren Angehörige vor einem deutschen Gericht gehört. „Es geht nicht um Strafe“, sagte Éva Fahidi an diesem Abend, „es geht um das Urteil.“
Und selbst in Pandemie-Zeiten hat Éva an zwei weiteren Veranstaltungen des Auschwitz-Komitees teilgenommen, per Livestream, immer mit Unterstützung durch ihren Begleiter Andor Andrási und umgeben von guten Freund*innen.
Begegnet sind wir uns auch in der Gedenkstätte KZ Auschwitz bei den Generalversammlungen des Internationalen Auschwitz-Komitees 2017 und im September 2022, zuletzt im Oktober 2022 an einem Liederabend für Éva in der Hamburger Kunsthalle.
Trauer und Sehnsucht nach den liebsten Menschen, ihrer kleinen Schwester, ihren Eltern, ihren ermordeten Verwandten, haben Éva immer begleitet. Aber sie wollte nicht hassen, Vorurteile nicht gelten lassen. Éva hatte sich entschieden, dem Hass, dem ewigen Hass keinen Platz in ihrem Leben zu geben. Sie kämpfte für Demokratie und Menschenrechte. Im Sinne eines NIE WIEDER FASCHISMUS – NIE WIEDER KRIEG! hat sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten von dem berichtet, was sie erlebt hatte – in Schulen, auf Bühnen, in Parlamenten. Für Éva stand fest: Eine andere Welt ist möglich. Sie bewegte und berührte die Menschen. Wir danken dieser großen, weisen, herzlichen Frau, die sich gegen den Hass entschieden hatte. Wir werden sie vermissen.