Sind Zeitzeugen nicht immer auch Menschen? – Natürlich, aber als Zeitzeugen wird von ihnen erwartet, Aufschluss über die Vergangenheit zu geben. Sie müssen sich mit dieser Erwartung auseinandersetzen, und je älter sie geworden sind, desto wichtiger werden sie und umso größer werden vielleicht auch die Erwartungen, wenn sie auch von der Einsicht begleitet werden, dass die Kräfte der Zeitzeugen-Menschen abnehmen.
Die bekannte Journalistin und Künstlerin Peggy Parnass ist eine der letzten Zeitzeuginnen für die „Kindertransporte“ 1938/39. Auf diese Weise versuchten jüdische Eltern, wenn sie schon ihr eigenes Leben nicht mehr vor der Verfolgung durch die Nazis retten konnten, wenigstens dasjenige ihrer Kinder zu retten.
So war eine scheinbare Erfolgsgeschichte entstanden – scheinbar, weil sie tragische Kehrseiten zeigte. An erster Stelle: Die wenigsten Kinder sahen ihre Eltern nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus wieder. So auch Peggy Parnass (95), die seit vielen Jahren im Hamburger Stadtteil St. Georg, inzwischen in einem Seniorenheim, lebt. Ihre Eltern sind in Treblinka ermordet worden. Von ihren Verwandten hat kaum jemand überlebt. Ein Onkel war rechtzeitig aus Deutschland geflohen. Zu ihm konnte sie mit ihrem kleinen Bruder („Bübchen“/ „Gady“) nach London übersiedeln, nachdem sie zunächst mit einem der Kindertransporte nach Stockholm gelangt war.
Ihr Leben war dort in Sicherheit, doch es war trotzdem eine Qual. Ihre Situation war typisch für die der geretteten Kinder: Sie beschreibt in ihrem Buch „Kindheit“, wie sie unter der Abhängigkeit von ihren 12 Pflegefamilien gelitten hat, mehr noch unter der sadistischen Willkür der Leiterin des Kinderheims, in dem ihr kleiner Bruder zeitweise untergebracht worden war. Die Trennung von ihren Eltern war nur der Anfang gewesen. Es folgten noch so viele, die alle dazu führten, dass sie bis zum heutigen Tag unter Trennungen leidet.
Diese lebenslangen Traumata – das war im ersten Teil der Veranstaltung des Auschwitz-Komitees in Hamburg zum Gedenken an die Pogrome vom November 1938 dargestellt worden – stellten die tragische Kehrseite der Rettungsgeschichte der Kindertransporte dar. Diese wurden in Medien und Wissenschaft erst zu einer Zeit thematisiert, als schon viele der NS-Verfolgten verstorben waren.
Peggy hatte in ihrem Rollstuhl, begleitet von Karl-Heinz Dellwo, den Vortrag von Komiteemitgliedern über die Novemberpogrome und deren Hintergründe verfolgt. Diese Akte des Terrors und anschließender Ausplünderung hatten den Druck auf die jüdische Verfolgung verstärkt, das Deutsche Reich zu verlassen. All dies und das Folgende war Teil ihrer Erfahrung.
Dann wurde sie auf das Podium gefahren. Nun rückten die Komitee-Mitglieder an den Rand, und sie saß neben der Schauspielerin Sylvia Wempner, die Auszüge aus ihren Erinnerungen („Kindheit“) vortrug. Nun folgte sie den Worten, die sie selbst aufgeschrieben hatte, und die die Schauspielerin mit solcher Intensität vortrug, als hätte Peggy selbst es gelesen.
Es war eigentlich vorgesehen gewesen, dass die Komitee-Mitglieder anschließend Reflexionen zu Peggys Erinnerungen vortragen. Doch nachdem Peggy so stark von ihrem eigenen Text, vielmehr ihren eigenen Erinnerungen überwältigt worden war, dass sie sagte, ihr sei ganz schlecht, wurde dieser Plan fallen gelassen, und Peggy äußerte, was ihr wichtig war: Sie bedauerte, dass nicht mehr Personen gekommen waren, um dieses „Geschenk“ (so nannte sie die Veranstaltung) anzunehmen. Ihre Erinnerungen gingen zu ihrem Bruder Gady, der in einem Kibbuz in Israel lebt, sehr krank ist und dessen Familie an seinem Bett abwechselnd wacht. Sie äußerste sich begeistert über diese alle, hob hervor, wie wichtig ihnen ein friedliches Zusammenleben mit den Arabern sei.
Sie schien sich wieder in ihrer Rolle der großen Schwester zu sehen. Sie sagte: „Er soll nie mehr allein sein“. Nun war der kleine Bruder – zwar in großer Gefahr – doch von einer Familie geschützt, die er sich selbst schaffen musste.
Es war mir in der Tat ein Geschenk, dass sie uns – als Zeitzeugin – einen Einblick in ein Leben gegeben hat, dass schon in ihrer Kindheit zerstört zu sein schien. Was sie daraus gemacht hat, geschah – wie sie es selbst einmal genannt hat – durch „Überstunden an Leben“. An diesem andauernden Prozess teilnehmen zu dürfen, war für mich zwar mit einem kleinen Gefühl von Indiskretion begleitet, aber ich hätte das Geschenk, das von diesem Gefühl begleitet war, nicht ablehnen mögen.
Weitere Informationen
GEGEN DAS VERGESSEN: Die Kindertransporte nach England und Schweden 1938/39