Erweiterte Fassung zur Veranstaltung des Auschwitz-Komitees
Gegen das Vergessen: Zum Gedenken an die Pogromnacht 1938
3. Nov. 2022
Inhalt
I. Überblick über das Thema
II. Auswanderung von Juden in der NS-Zeit
III. Vorgeschichte der November-Pogrome vom 9./10. November 1938, Verschärfung der Situation
IV. Die Kindertransporte nach England und in andere Länder
V. Die Kindertransporte nach Schweden
VI. Ausschnitt aus Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete
VII. Kommentare zu Peggy Parnass‘ Kindheitserinnerungen
VIII. Ausschnitt aus Peggy Parnass: Kindheit
I. Überblick über das Thema
Die Reichspogromnacht 1938 ist der Auslöser gewesen für die hastige Organisation von Kindertransporten nach England, aber auch nach Frankreich, Belgien, in die Schweiz, nach Schweden und in die Niederlande. Im Rahmen der Kindertransporte entkamen mehr als 10.000 Kinder, die als Juden unter die Nürnberger Rassegesetze fielen, der Verfolgung und Vernichtung.
Die Kindertransporte nach England stehen zunächst im Vordergrund: zum einen, weil die weitaus meisten Kinder nach England gebracht wurden, zum anderen, weil aufgrund geschichtswissenschaftlicher Forschung die Verhältnisse in England am besten aufgearbeitet und durch Literatur belegt sind.
Über die Kindertransporte nach Schweden ist sehr viel weniger bekannt. Aber: Wir haben Peggy Parnass‘ Erinnerungen.
Die Pogromnacht 1938 wirkte als Beschleuniger der Auswanderung: Der 1. Kindertransport verließ Berlin am 1. Dezember 1938. Der letzte Kindertransport erreichte England am 2. September 1939, einen Tag
nach dem Beginn des 2. Weltkrieges mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen.
II. Auswanderung von Juden in der NS-Zeit
Das Thema Kindertransporte ist Teil des großen Oberthemas „Exil von Juden in der NS-Zeit“. Ab 1933 stellte sich für die jüdische Bevölkerung im damaligen Deutschen Reich die Frage „Gehen oder Bleiben?“. Die Antwort „bleiben“ ergab sich aus einem historischen Bewusstsein, das sich gegenwärtig im Gedenken an „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ widerspiegelt. Auch Bewusstsein von Anerkennung – z. B. als Soldaten während des Ersten Weltkriegs – spielte eine Rolle, wie Esther am Beispiel ihres Vaters schilderte, der sich als deutscher Patriot, Träger des Eiserenen Kreuzes und Kriegsversehrter seine Verhaftung im Zuge der Pogromnacht nicht hinnehmen wollte und sich nicht vorstellen konnte, dass er mit einer Beschwerde bei der SA auf taube Ohren stieß.
Andererseits ließ sich die zunehmend drohende Perspektivlosigkeit nicht mehr negieren. Als Beispiele für Ausgrenzung und Verfolgung sind zu nennen: der Geschäftsboykott vom 1. April 1933, die Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Jahre 1935, die Vertreibung von 17.000 Juden polnischer Nationalität – der sogenannte Polenaktion im Oktober 1938. Es folgten die Pogrome vom 9. und 10. November 1938 und – worauf noch genauer zurückzukommen sein wird – die „Göring-Konferenz“ im Reichsluftfahrtministerium am 12. November 1938.
Bei zunehmender Bedrohung wurden die Hindernisse für eine Emigration immer größer: Seit Frühjahr 1938 waren jüdische Vermögen beschlagnahmt. Um einen Reisepass zu beantragen, musste nachgewiesen werden, dass die „Reichsfluchtsteuer“ und – nach dem Novemberpogrom – zusätzlich die sogenannte „Sühneabgabe“ entrichtet worden war.
Die Lage für die deutschen Juden drohte somit aussichtslos zu werden.
Gleichzeitig wurde die Emigration aber auch dadurch erzwungen, dass der jüdischen Bevölkerung die materiellen Existenzbedingungen zunehmend entzogen wurden: den Staatsbediensteten durch die Entlassung nach dem sogenannten Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, Besitzern von Unternehmen durch sogenannte „Arisierung“, die auf eine Enteignung mit minimaler Entschädigung hinauslief. So konnte es selbst für den ehemals vermögenden Teil der jüdischen Bevölkerung schwer werden, die Reichsfluchtsteuer aufzubringen und gleichzeitig für eine ausreichende finanzielle Grundlage für eine Existenz im Auswanderungsland zu sorgen.
Zu der materiellen Erschwernis der Auswanderung durch das NS-Regime kam die zunehmend ablehnende Haltung von potenziellen Aufnahmeländern gegenüber Emigranten. Symptomatisch dafür ist das Scheitern der Flüchtlingskonferenz von Évian, die vom 6. bis 15. Juli 1938 auf Initiative des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zusammenkam: Die Konferenz endete weitgehend ergebnislos, da sich außer der Dominikanischen Republik alle Teilnehmerstaaten weigerten, mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Bekannt als Symbol für das Scheitern der Konferenz wurde die Irrfahrt der „St. Louis“, die fast 1.000 jüdische Flüchtlinge an Bord hatte, und der die Landung auf Kuba verweigert wurde.
III. Vorgeschichte der November-Pogrome vom 9./10. November 1938, Verschärfung der Situation
Die Pogrome vom 9. auf den 10. November 1938 spielen, wie bereits angedeutet, eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte der Kindertransporte. Und auch diese Pogrome hatten wiederum ihre Vorgeschichte, die einerseits auf einer verdeckten langfristigen Planung durch die NSDAP-Propaganda beruhten, andererseits aber auch mit einer damals aktuellen Krise im polnisch-deutschen Verhältnis zusammenhing.
Der Vorwand für die Pogrome vom 9./10. November 1938 hing mit den massiven Ausweisungen polnischer Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen zusammen, die am 27.10.1938 begannen, aber an der polnischen Grenze endeten: die sogenannte „Polenaktion“.
Seit 1933 waren die Ausweisungsvorschriften verschärft worden, und Polen hatte schon in Einzelfällen die Aufnahme ausgewiesener polnischer Juden abgelehnt. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 wurde in Polen noch im selben Monat ein Gesetz „über den Entzug der Staatsbürgerschaft“ beschlossen. Polen weigert sich im Juni 1938, dem NS-Staat die Zusicherung zu geben, auf Verlangen ausgebürgerte Juden aus Deutschland aufzunehmen. Die deutsche Regierung verschärfte im Folgenden ihre Ausweisungspolitik, die polnische Regierung reagierte mit zunehmender Abschottung ihrer Grenze nach Deutschland, – am Ende mit Stacheldraht und Maschinengewehren. Nachdem am 29.10.1938 die polnische Regierung deutsche Staatsbürger aus Polen und Pomerellen ausgewiesen hatte, entwickelten sich im Niemandsland an der polnisch-deutschen Grenze Zustände, die selbst die Gestapo „unhaltbar“ fand. Am 29.10. wurde die Ausweisungsaktion eingestellt, und es kam ab 2.11. zu Verhandlungen zwischen Polen und Deutschland. Am 3.11. hatte der nach Paris emigrierte deutsche Jude Herschel Grynspan von seiner Schwester aus Polen Nachricht bekommen, dass sie und die Eltern Opfer der „Polenaktion“ geworden waren und völlig mittellos in Polen festsaßen. Daraufhin verübte er ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Dem NS-Staat diente diese Tat als Vorwand, um – unter dem Motto „Rache für den Mord an vom Rath“ – schon lange beabsichtigte Pogrome gegen die Juden in Deutschland durchzuführen. Am 8.11. verbot der Reichsführer SS Himmler „bis auf weiteres wegen der technischen Schwierigkeiten die Abschiebung von Juden nach Polen“. Aber am 9./10. November fand, wie wir wissen, die Pogromnacht statt.
Bereits zwei Tage nach der Reichspogromnacht wurde die später so genannte „Göring-Konferenz“ im Reichsluftfahrtministerium abgehalten, die weitreichende Beschlüsse im Hinblick auf die Situation der Juden im Deutschen Reich fasste.
Diese Konferenz war aus Sicht der NS-Regierung nötig geworden, weil die Ergebnisse der Pogromnacht bewertet und Planungen für die künftige Politik in den verschiedenen Bereichen, vor allem im Bereich der Judenverfolgung, entwickelt werden sollten.
Die Konferenz ist der Aufmerksamkeit und dem Gedächtnis der Gesellschaft bis heute weitgehend entzogen. Die Protokolle dieser Konferenz sind nur durch Zufall und auch nur teilweise überliefert. Aber hier war es, dass weitreichende Beschlüsse zu Schikanierung und Entrechtung der Juden beschlossen wurden, von denen die ersten bereits in den darauffolgenden Wochen umgesetzt wurden. Es war offenkundig, dass die Verdrängung der Juden voranschritt.
Die Verfolgungswut der NS-Regierung zeigte sich daran, dass die deutschen Juden eine sogenannte „Sühnezahlung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark zahlen sollten. Göring hatte in der Konferenz vom 12. November 1938 gesagt: „Ich werde den Wortlaut wählen, dass die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit als Strafe für die ruchlosen Verbrechen usw. usw. eine Kontribution von 1 Milliarde auferlegt bekommen. Das wird hinhauen. Die Schweine werden einen zweiten Mord so schnell nicht machen.“
Der physische Terror der Reichspogromnacht wurde durch die materielle Bedrohung so verschärft, dass sich die Situation für die Juden in Deutschland zuspitzte. Dabei konnten sie nicht wissen, dass in der Göring-Konferenz inhaltlich bereits von Ghettos und – wenn auch nicht begrifflich – vom Judenstern gesprochen worden war.
Die Entwicklung ging schon damals auf ihre Vernichtung zu. Der US-amerikanische Historiker Raul Hilberg diskutiert im Gespräch mit Claude Lanzmann die Entstehung der NS-Ideologie als spezifisches Verhältnis von Kontinuität und Erfindung. Er sagt: „Sie [die Nazis] haben sehr wenig erfunden, nicht einmal ihr Bild vom Juden, sie haben es aus Texten geborgt, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. So haben sie sich sogar in ihrer Propaganda, dem Reich der Vorstellungskraft und Erfindung, auffallend auf den Spuren ihrer Vorgänger bewegt, von Martin Luther bis ins 19. Jahrhundert. Auch da haben sie noch nichts erfunden. Mit der Endlösung hingegen wurden sie zu Erfindern. Das war ihre große Erfindung, und von da an unterscheidet sich die Entwicklung von allem, was es jemals vorher gegeben hatte. Als die Endlösung beschlossen wurde, oder, um es genauer zu sagen, als die Bürokratie sie zu ihrer Sache machte, war das ein Wendepunkt in der Geschichte. Selbst hier würde ich eine logische Entwicklung sehen, die ihre Steigerung erfuhr in dem, was man den Höhepunkt nennen könnte. Denn von den frühesten Zeiten, vom vierten, fünften oder sechsten Jahrhundert an, hatten die christlichen Missionare gesagt: ‚Ihr könnt unter uns nicht als Juden leben.‘ Die weltlichen Herrscher, die ihnen vom Spätmittelalter an folgten, entschieden: ‚Ihr dürft nicht unter uns leben.‘ Und die Nazis beschlossen: ‚Ihr dürft nicht leben.‘“
Die Juden in Deutschland befanden sich – und das ahnten viele nach den November-Pogromen – im Übergang von der zweiten zur dritten von Hilberg genannten Phase: vom „ihr dürft nicht unter uns leben“ zum „ihr dürft nicht leben“. Und das veränderte für viele die Antwort auf die Frage „Gehen oder Bleiben?“.
Die Hoffnungen aus der ersten Zeit der NS-Herrschaft waren inzwischen zerstoben: Die einen hatten gehofft, dass sich der „böhmische Gefreite“, wie Hitler spöttisch, aber in falscher Einschätzung der Lage genannt wurde, nicht lange würde halten können. Andere hatten sich nicht vorstellen können, dass ihre Leistungen für das Deutsche Reich als Soldaten im Ersten Weltkrieg nicht gewürdigt werden würden. Und schließlich konnten sich viele Juden sagen: Unsere Familie ist seit Jahrhunderten in Deutschland ansässig. Was soll uns passieren: Wir sind Deutsche.
Die Hoffnungen waren aber schon Jahr für Jahr zunehmend zerstoben nach den Arbeitsverboten, der Arisierung und der als Sühnezahlung betitelten Strafzahlung. Wenn sie sich nun entschlossen, Deutschland zu verlassen, war ihre Situation sehr schwierig. Die Nazis trieben durch ihre Politik die Fluchtbewegung einerseits an; andererseits bildete die von ihnen stark erhöhte Reichsfluchtsteuer ein erhebliches Hemmnis.
Außerdem wurde es immer schwieriger, ein Visum für ein Auswanderungsland zu erlangen. Diese Situation hatte sich nach dem 9./10. November 1938 zugespitzt. Viele Familien sahen keine Möglichkeit, zu entkommen.
IV. Die Kindertransporte nach England und in andere Länder
Es bildete sich im Laufe des Jahres 1938 ein Gedanke heraus, der einmal undenkbar erschienen war: dass sich Eltern entschließen, sich von ihren Kindern zu trennen, in der Hoffnung, auf jeden Fall deren Leben zu retten, mit der vagen Möglichkeit, dass sich die Familienspäter einmal wiedervereinigen können. Wann und unter welchen Bedingungen dieses „Später“ stattfinden könnte, war noch nicht vorstellbar: Ein neuer Weltkrieg und der Versuch der Nazis, die jüdische Bevölkerung, zumindest die Europas, zu vernichten – diese Ereignisse lagen in der Zukunft, wenn auch nur ein Jahr oder wenig mehr entfernt.
Die Bereitschaft der Eltern, die ihnen schwer genug gefallen sein wird, hätte wenig geändert, wenn sich nicht Aufnahmeländer für diesen Plan gefunden hätten. Es ist kein Zufall, dass die meisten Kinder durch die Transporte nach England gerettet wurden. Das deutete sich schon sehr früh an: Denn bereits am 15. November 1938 – also weniger als eine Woche nach den November-Pogromen – empfing der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain eine Abordnung britischer Juden und Quäker, um über eine vorübergehende Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in Großbritannien zu verhandeln.
Diese auf den ersten Blick überraschende Entscheidung der britischen Politik ist vor dem Hintergrund der britischen Nahostpolitik in den 1930er-Jahren zu sehen: Großbritannien übte das Mandat über das damalige Palästina aus und hatte in der Balfour-Erklärung von 1917 versprochen, in Palästina eine jüdische Heimstätte zu schaffen, hatte sich aber angesichts des Aufstands der arabischen Bevölkerung entschlossen, die Einwanderungsquote in diese Gebiete stark zu begrenzen. Die jüdische Bevölkerung in Deutschland, sofern sie dorthin hatte auswandern wollen, war enttäuscht oder verbittert, ebenso jüdische Hilfsorganisationen außerhalb Deutschlands. Außerdem hatte die Appeasement-Politik Großbritanniens vor dem Einmarsch der Deutschen ins Sudentenland, die als ein Nachgeben gegenüber der NS-Expansionspolitik angesehen werden konnte, dessen Ansehen geschädigt.
Die Aufnahmebereitschaft gegenüber jüdischen deutschen Kindern konnte daher auch als ein Versuch der Image-Verbesserung angesehen werden. Erleichtert wurde sie dadurch, dass die Einwanderung von Kindern – im Gegensatz zu der von Erwachsenen – nicht das Sozialgefüge des Landes zu erschüttern drohte: Kinder arbeiteten nicht im formalen Sinne und wurden daher nicht als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt betrachtet. Bislang hatte die Presse in England wenig über das Ausmaß der Judenverfolgung in Deutschland berichtet; eine Ausnahme stellte der „Manchester Guardian“ dar, der seit 1933 darauf bestand, dass Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland aufgenommen werden müssten. Nach den Novemberpogromen änderte sich die Stimmung, die aber auf ein Dilemma hinauslief: Nun wurden zwar die humanitären Ideale beschworen, aber es wurden auch Ängste vor einer angeblichen „Flüchtlingswelle“ und vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geschürt. Die Einrichtungen für Flüchtlingshilfe betrieben 1938 eine restriktive Politik: aus Angst, der Antisemitismus könne verstärkt werden und die finanziellen Mittel könnten überbeansprucht werden, wobei nirgends erwähnt wurde, dass die Kosten für die Flüchtlinge von der Jüdischen Gemeinde übernommen wurden.
Das Thema „Kindertransporte“ in der öffentlichen Wahrnehmung
England hatte ein wenig Übung in der Aufnahme unbegleiteter Kinderflüchtlinge. Vom März 1936 bis November 1938 trafen 471 unbegleitete Kinder aus dem Baskenland ein, die meisten als Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkrieges.
Die Rettung tausender jüdischer Kinder aus Deutschland erscheint demgegenüber als immenser Erfolg – ein Erfolg aber, der durchaus seine Schattenseiten hatte. Die Traumatisierungen der Kinder sind nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang wenig wahrgenommen worden– jedenfalls sofern man darunter die Aufmerksamkeit versteht, die die Geschichtswissenschaft auf sie richtete.
Die Kindertransporte können als ein Spezialfall des Exils verstanden werden und rückten erst spät in den Blick. In der Exilforschung stand zunächst das politische und literarische Exil, seit den 1980er Jahren auch das jüdische Exil im Vordergrund. Hierbei dürfte die Ausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust“ in den USA und weltweit eine motivierende Rolle gespielt haben. Danach kamen Frauen und Durchschnittsbevölkerung in den Fokus.
Die ersten Treffen von ehemaligen Kindern der Kindertransporte fanden erst Ende der 1980er Jahre statt. Viele Überlebende der KZs waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Sie galten als die wahren Überlebenden, während die Kinder sich doch in Sicherheit befunden hatten. Die Kindertransporte wurden erst in den 1990er-Jahren Thema der Geschichtswissenschaft, und zwar als Teil der „Holocaust Studies“ und „Second Generation Studies“. Das bedeutet, dass bis dahin die Probleme der Kinder, die etwa 40 Jahre zuvor ins Exil geschickt worden waren, fast ein halbes Jahrhundert lang nicht so weit wahrgenommen worden waren, dass sie in der Öffentlichkeit oder von der Geschichtsforschung behandelt wurden.
Der Aspekt der Traumatisierung war gegenüber dem der Rettung des nackten Lebens – vielleicht verständlicherweise? – nicht in den Blick geraten.
Den Kindern war aber mit der Verschickung der gesamte gesellschaftliche Orientierungsrahmen – Eltern, Familie überhaupt, Freundschaften, Schule, Sportverein usw. – verloren gegangen. Der biographische Bruch führte häufig zu einem bleibenden Gefühl von Entwurzelung und Ortlosigkeit, auch zu einem vorzeitigen Ende der Kindheit. Dass dies nicht imaginäre Hypothesen sind, wird sich noch am Beispiel von Peggy Parnass‘ 2013 veröffentlichten Erinnerungen mit dem Titel „Kindheit“ zeigen – ein Buch, das von dem, was der Titel verspricht, im eigentlichen Sinne nicht handelt. Die Historikerin Claudia Curio stellt in ihrem Buch aus dem Jahr 2006 fest: „Ehemalige Kindertransportteilnehmer sind publizistisch außerordentlich aktiv.“ Aus der Fülle dieser Publikationen geht hervor, dass Kinder sich an früh erlebtes Leid sehr wohl erinnern können. Ihre Verarbeitung der Traumata verlief unterschiedlich, abhängig davon, wie jung die Kinder waren: Waren sie sehr jung, verstanden sie die Vorgänge um sie herum nicht, und sie entwickelten als Erwachsene Schuldgefühle. Verstanden sie, was ihnen geschah, hing die Chance für die Bewältigung ihrer Situation im Exil und später ihrer Traumata davon ab, ob Kinder bereits an eine Außenseiterrolle ihrer Eltern gewöhnt waren – wie z. B. Kinder aus dem Widerstand oder Kinder aus orthodoxen Familien – , ob sie allein oder z. B. mit Geschwistern ins Ausland fuhren, oder von den spezifischen Erinnerungen an ihr Herkunftsland.
Wichtig war aber auch, wie ihr Leben im Aufnahmeland verlief. Dazu gehören verschiedenste Aspekte, von denen nur einige genannt werden sollen. Die Psychotherapeutin Ute Benz schreibt: „Erwachsene, die sich um unter Trennung leidenden Kindern in bester Absicht kümmern wollten, durften keine dankbaren und pflegeleichten Objekte ihrer Fürsorge erwarten“ Auch sehr wohlmeinende Pflegefamilien erlebten mit diesen traumatisierten Kindern Schwierigkeiten. Situationsbedingte Verhaltensweisen, die die Pflegeeltern störten, wurden von diesen leicht als „Ungezogenheiten“ verstanden, so dass die Kinder häufig die Pflegestelle wechseln mussten, was zu erneuter Traumatisierung führte. Überdies waren nicht alle Kinder in Familien untergebracht, etliche vielmehr in Heimen: Zwar fehlte ihnen die Sicherheit im Umgang mit einer beschränkten Zahl von Bezugspersonen; andererseits konnten sie aber im besten Fall mit ihrer Kindergruppe engen Kontakt aufbauen. Der Kontakt zur Gesellschaft des Aufnahmelandes war aber entsprechend geringer.
Nun einige Informationen zum Ablauf und der Nachgeschichte der Kindertransporte.
Die Voraussetzungen für die Kindertransporte in Österreich und im übrigen Deutschen Reich waren unterschiedlich. Im Deutschen Reich hatte es Flucht vor Verfolgung durch die Nazis schon seit 1933 gegeben. Bis 1938 – bis zum sogenannten „Anschluss“ – konnte Österreich als Exilland für deutsche Juden gelten. In Österreich nach dem Anschluss hingegen konnten sich diejenigen, die Exil suchten, zu denen auch die Kinder gehörten, nicht auf eine bestehende Infrastruktur stützen, wenn sie fliehen wollten. Dort waren bis 1938 nur wenige unbegleitete Kinder verschickt worden.
Im übrigen Deutschen Reich war bereits 1933 die Abteilung Kinderauswanderung in der Zentralwohlfahrtsstelle der Reichsvertretung der Juden gegründet worden. Hier begann Ende 1938 Norbert Wollheim zu arbeiten. Norbert Wollheim verdient es, in einer eigenen Veranstaltung gewürdigt zu werden. Seine 1950 eingereichte Klage gegen die I.G. Farben auf Entschädigung für geleistete Zwangsarbeit war das erste Musterverfahren in der deutschen Nachkriegszeit. Nach den Novemberpogromen machte er sich verdient um die Kindertransporte. Bis 1941 war er verantwortlich für die berufsausbildenden Schulen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. 1943 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert und überlebte als einziger.
Auf beiden Seiten – in Großbritannien einerseits, im Deutschen Reich und in Österreich, das nach dem sogenannten „Anschluss“ im März 1938 „Ostmark“ hieß – waren Hilfsorganisationen beteiligt, die auf die Mitwirkung der jeweiligen Regierungen angewiesen waren. Besonders heikel war die Zusammenarbeit mit der NS-Bürokratie, von der die deutschen Hilfsorganisationen auf Gedeih und Verderb abhängig waren.
Die meisten Züge gingen von Berlin nach Hoek van Holland, dann per Schiff nach Harwich und zunächst weiter nach London. Die Anfänge verliefen chaotisch. Die Nazi-Behörden verboten sehr schnell die hochemotionalen Abschiede auf dem Bahnsteig. Nach den ersten Transporten durften Eltern ihre Kinder nicht mehr dort auf dem Bahnsteig verabschieden, um nicht öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Das Begleitpersonal, das die Kinder nach England begleitete, musste jeweils zurückkehren; andernfalls wären die Transporte gestoppt worden.
Von Hamburg aus wurden mehr als 500 von den hier lebenden 920 jüdischen Kindern, also mehr als die Hälfte, gerettet. Hamburg war die Stadt mit dem größten prozentualen Anteil von allein ins Ausland geschickten Kindern. In Berlin waren es hingegen nur 20 Prozent. In Hamburg waren offenbar die kreativen Methoden des für die Kindertransporte verantwortlichen Vorsitzenden des Jüdischen Religionsverbandes Max Plaut der Grund für den relativen Erfolg des Kindertransporte. Es gelang ihm, ohne dass es entdeckt wurde, einmal mehr Kinder, ein anderes Mal mehr Begleitpersonen in die Züge zu bringen.
Ein Problem war, dass nicht alle Kinder, deren Eltern es wünschten, mitfahren durften, sondern dass die Kinder ausgewählt werden mussten. So kamen vor allem Halbwüchsige, mehrheitlich Jungen, mit, ferner Kinder aus Familien in sozialer Not, staatenlose Kinder, Kinder aus Heimen und Waisenhäusern, Kinder aus Kleingemeinden, die mangels Anonymität Schikanen in besonderem Maße ausgesetzt waren.
Die Historikerin Claudia Curio formuliert wohl am prägnantesten die extremen psychischen Anforderungen, die die Aufnahmeländer an Kinderflüchtlinge stellte: „Den Kindern wurden von ihren Helfern schwere Aufgaben mit auf den Lebensweg gegeben: Sie sollten sich anpassen, dankbar sein und sich ihrer Rettung würdig erweisen.“
V. Die Kindertransporte nach Schweden
Peggy Parnass wurde zusammen mit ihrem Bruder Gady von ihren Eltern, die später in Treblinka ermordet wurden, nach Schweden geschickt. Daher wollen wir auf die Situation in Schweden, das im Zusammenhang mit dem Thema „Kindertransporte“ selten genannt wird, gesondert eingehen.
Schweden hat etwa 450 Kinder aufgenommen, sehr viel weniger als England, denn das Land hatte und hat eine sehr viel geringere Bevölkerungszahl und eine sehr viel kleinere Jüdische Gemeinschaft als England.
Die schwedischen Jüdischen Gemeinden bereiteten zusammen mit den deutschen Jüdischen Gemeinden und anderen deutschen und jüdischen Hilfsorganisationen die Transporte vor. Nach dem schwedischen Einwanderungsgesetz war eine Einreise ohne eine Erwerbsmöglichkeit der Einwandernden nicht vorgesehen. Zwar waren seit 1933 einige vorübergehende Aufenthaltserlaubnisse erteilt worden, doch stand nun die Aufgabe bevor, eine Einwanderungsquote für Kinder durchzusetzen.
Vermehrte Anfragen hatte es bereits nach dem „Anschluss“ vom März im folgenden Sommer 1938 aus Österreich gegeben. Schon damals wurde die Unterbringung nicht nur in Privathaushalten, sondern auch in Heimen vorgeschlagen. Wie bereits dargestellt, nahmen die Anfragen nach den November-Pogromen stark zu.
Eine Geldsammlung in Schweden war mit 250.000 Kronen sehr erfolgreich. 50 Kronen im Monat galten als ausreichend für die Unterbringung eines Kindes. So konnte eine Einwanderungsquote – vorwiegend für Kinder – mit Aussicht auf Erfolg erbeten werden; es lagen zudem auch schon 175 Zusagen von Familien vor. Die Quote wurde gewährt, später auf 300 und schließlich auf 500 erhöht. Damit war allerdings noch nicht das Problem gelöst, dass die Kinder erst einmal aus Deutschland ausreisen können mussten, was große Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen bereitete: politisch, administrativ, medizinisch.
Schwierigkeiten ergaben sich aber auch auf Grund der Auswahlkriterien: Die jüdischen Organisationen in Deutschland gingen von der ihnen bekannten Situation der Kinder und ihrer Familien in Deutschland und der entsprechenden Dringlichkeit aus. Die schwedischen Organisationen wollten gern Probleme mit den aufnehmenden Familien vermeiden.
Pflegeeltern bevorzugten Mädchen, vor allem jüngere, als Pflegekinder. Viele Familien wollten gern ein Kind adoptieren und hatten dementsprechend feste Vorstellungen. Wie auch in England, hatten es Jungen, speziell heranwachende, schwer, vermittelt zu werden. Unter den Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft war das paradox, denn diese hätten in absehbarer Zeit eine Ausbildung beginnen und dann auch Arbeit finden können. Dies war aber der Bevölkerung aus sozialpolitischen Gründen schwer zu vermitteln. Denn dann wären die Flüchtlinge als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt empfunden worden.
Ähnlich wie in England hatten Kinder mit Behinderungen so gut wie keine Chance. Hier stand allein schon die Bedingung des Einwanderungsgesetzes im Wege: dass vor der Einwanderung eine ärztliche Untersuchung stattzufinden hatte, die die Gesundheit des Kindes bezeugte.
Der Historiker Clemens Maier-Wolthausen zieht ein nüchternes und zugleich deprimierendes Résumé: „Die empfangenden Länder und Hilfskomitees legten Wert auf die intelligentesten, begabtesten und anpassungsfähigsten […] Kinder. […] Der Flüchtlingshilfe wurde hier eine sozial selektierende Funktion zuteil.“ Ein Kind spricht im Rückblick von „Viehmarktstimmung“. Maier-Wolthausen schließt mit den Zeilen: „Die Tragik der Kindertransporte aber ist, dass ein übergroßer Teil der geretteten Kinder letztlich zu Waisen wurde. Sie mussten neben der oft schwierigen Eingewöhnung in die neue Umwelt und Sprache, der dauernden Angst um die zurückgebliebenen Familienangehörigen letztlich den Verlust ihrer Familien verarbeiten.“
Auch an dieser Stelle gilt der bereits zitierte Satz der Historikerin Claudia Curio: „Den Kindern wurden von ihren Helfern schwere Aufgaben mit auf den Lebensweg gegeben: Sie sollten sich anpassen, dankbar sein und sich ihrer Rettung würdig erweisen.“
Wir wenden uns nun ganz speziell Peggy Parnass zu, der Autorin, Journalistin, Schauspielerin, Gerichtsreporterin, politisch-feministischen Akteurin, bewundert von Ralph Giordano für ihren „basaltharten Willen, sich zu wehren“. Ihre Mutter schützte ihre beiden Kinder vor den Nazis, indem sie sie mit einem Kindertransport nach Schweden schickte.
VI. Ausschnitt aus Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete
„Natürlich habe ich gleich ja gesagt, als es um Kindheitserlebnisse ging. So wie ich immer viel zu schnell ja sag, wenn ein Thema mich reizt. Erst hinterher fiel mir ein, dass ich nie Kind war. Vielleicht jetzt inzwischen bin ich‘s. Gelegentlich.
Also bleibt mir nur zu überlegen, bis wann man offiziell Kind ist.
Solange die Mutter lebt? Bis man zur Schule kommt? Bis man das erste Mal mit jemandem schläft?
Bis man die Verantwortung für sich und andere trägt?
Seitdem ich vierzehn bin habe ich mich selbst ernährt. Damals zum Teil auch meinen Bruder mit. Sagen wir mal, dass ich bis dahin Kind war, obwohl das natürlich Quatsch ist. Meine Erinnerungen wechseln von Tag zu Tag, ganz nach Verfassung. Entweder nur eine Aneinanderreihung von Albträumen. Oder so, dass es mir vor Sehnsucht und Verlangen das Herz zerquetscht und mir Tränen in die Augen treibt. Egal wie, jede Erinnerung hängt mit Mutti zusammen. Mit ihrer Anwesenheit oder Abwesenheit. Daran hat sich leider nichts geändert.
Komisch – einerseits nie Kind, andererseits nie erwachsen.
Sie war klein. Mit wuschelig krausem Haar. Sehr viel Haar. Meistens ein Knoten, um erwachsener und ordentlicher auszusehen. Riesige graue Augen‚ ne große Nase. Und jede Menge Mund. Sie hat eine ganz duftende Haut gehabt, weil sie sich immer wusch. Wir waren sehr arm, so dass sie sich an so einem eiskalten Handstein in der Küche waschen musste. Steinfliesen. Da stand sie jeden Tag und wusch sich von Kopf bis Fuß.
[…]Ihr Lachen und ihre Stimme. Wir wohnten Parterre. Schon von weitem konnte man unser Fenstersims erkennen. Das einzige in der Straße, das hell geschrubbt war. Von wegen dreckige Juden. Und ihr Lachen war bis auf die Straße zu hören. Wie ansteckendes Leben. So wie aus anderen Wohnungen oft Musik dringt. Wenn ich ihr Lachen draußen hörte, wusste ich, wie sie aussah. Mit dem Mund ganz groß von Ohr zu Ohr und die großen Augen klein. So laut, wie sie gelacht hat, hat sie auch geweint. Nur nicht so oft. Vielleicht habe ich auch bloß die Male mitgekriegt, wo es so laut war. Sie wollte kein Mitleid.
Wenn Pudl nach Hause kam, sagte sie immer, er kommt gleich. Und am nächsten Morgen, dass er ganz früh aufstehen musste und schon wieder weg wäre. Obwohl er gar nicht erst zu Hause gewesen war.
Sie war so weich und nachgiebig.
Nur einmal, als er gleich drei Tage und Nächte wegblieb, um zu spielen, kriegte sie einen Nervenzusammenbruch. Lag stundenlang auf dem Bauch auf der Couch schreiweinend und schlug mit Füßen und Fäusten auf das Polster ein. Ich wusste, dass ich ihr nicht helfen konnte, weil sie ihn wollte. Seitdem habe ich ihn gehasst, für das, was er ihr antat. Als sie ihn endlich irgendwo erwischte, war ich dabei. Er schämte sich wie immer, und ich sagte: Pudl, du bist ein Schwein.“ Das tut mir heut noch leid. Auch weil ich dadurch ihre Liebe beleidigt hab.
Pudl war Zocker.
Poker war seine Hauptleidenschaft. Einmal gewann er eine große Gans und brachte sie strahlend nach Hause. Das war ein Fest! Nur das machte seine Verluste natürlich nicht wett. Er ruinierte mühelos sich selbst und alle, die er kannte. Wie jeder Spieler.
Pudl war Pole.
Noch bevor er als Jude hier unerwünscht war, war er als Spieler zum unerwünschten Ausländer gestempelt. Er war klein, schlank, mit vielen schwarzen Locken. Und einem eleganten Schnurrbart. Nicht wie Hitler, sondern die ganze Mundlänge entlang. Ein sehr schöner Mund und ein schönes schmales Gesicht mit hoher Stirn und lachenden Augen. Fast dreißig Jahre älter als Mutti. Ein Junge mit immer neuen Albereien im Kopf. Bunt und abenteuerlich. Immer zu Faxen aufgelegt. Die Hände so schlank und sensibel, dass sie auf ganz andere Instrumente als Karten schließen ließen. Aber er war total unmusikalisch. Sang herzzerreißend falsch.
Elegante Figur, gerade, tänzerisch
Er war sehr stolz auf mich. Machte mich zu seinem Komplizen, um mit mir angeben zu können. Zum Beispiel beim Zaubern. Auf allen Kinderfesten war ich seine Assistentin. Aber immer so, als wäre es nicht geplant, sondern wie ein Wunder Gottes. Auch legte er die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft mit meiner Hilfe rein. Er brachte mir vom Schriftbild her bei, was auf allen Dosen in der Küche stand. Wenn das Haus voll Besuch war, sagte er dann beiläufig:“ Was hast du heute denn gelesen? Wenn die anderen dann sagten: „Das Kind kann doch nicht lesen!“, sagte er: „Doch, natürlich.“
Und bewies es ausgiebig in der Küche.
Später in Schweden, als ich, die vorher noch nie Schwedisch gehört hatte, schon im ersten Schuljahr Klassenbeste in Schwedisch war. Und dann noch später, als ich im Englischunterricht hohnvoll die Lehrerin vor der ganzen Klasse blamierte, indem ich ihr Englisch verbesserte. Was muss die mich gehasst haben, dass ich im Recht war. Im Recht war ich auch, als ich, klein wie ich war, den Schweden erzählte, was mit Juden in Deutschland passiert. Nur das wollte mir keiner glauben. Wie in einem Traum, in dem man schreien will und keinen Ton rausbringt. Genauso wenig drang ich durch.
Seitdem weiß ich, dass Wissen allein nicht genügt, sondern Beweise da sein müssen, wenn man will, dass einem geglaubt wird.
Die Nazis waren um uns rum. Ich weiß nicht, wie Kiesinger und andere sie übersehen konnten.
Ich sah jeden Tag was, und die Angst saß uns in den Knochen. Onkel Leo kam zurück aus dem Knast. Den ganzen Kopf weiß verbunden, wie ‘ne Mumie. Es war gruselig, aber ich hätt gern gewusst, was sie ihm alles drunter kaputt gehauen haben. Wir sollten nichts fragen, weil er nichts erzählen durfte. Dann fiel der Unterricht aus, weil ‘ne Lehrerin, die wir alle nicht mochten, verhaftet war. Wir waren doof und haben uns nur gefreut, weil wir sie nicht mehr hatten. Als Bübchen zwei war, schmissen die anderen Kinder ihn auf die Straße und sprangen auf ihm rum. Zur Strafe, weil er Jude ist. […] Mich zerrten die Kinder in ein fremdes Treppenhaus rein. Schubsten mich gegen die Wand und schrien dauernd im Chor was vom Judenblut, das vom Messer spritzt. Bis Opa mich befreite.
Als es wie verrückt bei uns an die Tür klopfte, das war bei Dunkelheit im Spätherbst, morgens gegen fünf, wusste auch ich, obwohl es mich aus dem Schlaf riss, dass das die Polizei war.
Ich mochte nicht sehen, wie Pudl versuchte, den Idioten seine Orden aus dem Ersten Weltkrieg zu zeigen. Das waren ganz viele Orden.
Er hatte sie in einem Holzkästchen. Das hielt er denen geöffnet hin. Er konnte nicht begreifen, dass das nichts änderte. Es tat mir weh, wie sie ihn behandelten. Aber meine Angst war komischerweise weg.
Es tat mir noch viel mehr weh, als die Milchfrau Mutti ohrfeigte. Nur weil sie für uns was zu essen holen wollte. Ich kriegte auch welche geklebt. Dann hoben sie und ihr Mann Mutti hoch und schmissen sie die Treppe hoch raus. Ich fühlte mich für sie verantwortlich und schämte mich, weil ich ihr nicht helfen konnte.
Ich schämte mich auch, dass sie tot ist.
Als Bübchen und ich neu in Stockholm waren, haben wir uns richtig verlaufen, ohne es zu wollen. Von morgens an, den ganzen Tag. Wir konnten kein Wort Schwedisch. Erst abends brachten uns Leute zurück zu den Pflegeeltern, deren Adresse wir nicht einmal hatten. Nur den Namen. Das waren dänische Juden. (…) Ich dachte, die hätten sicher die Polizei geholt und uns überall suchen lassen. Dass sie dann schimpfen und schreien würden, vielleicht uns sogar schlagen. Aber es war viel schlimmer. Sie hatten nicht einmal gemerkt, dass wir weg waren.
Von da an wusste ich, dass wir allein sind. Ein für allemal.
Meine Angst vor Trennungen macht mich auch fast verrückt.
Die Trennung von Pudl. Nach unserer Verhaftung wurden wir mit anderen Juden auf einen Viehwagen geladen. Ganz langsam durch die Straßen gefahren. Leute guckten aus den Fenstern. Leute guckten weg, Leute gingen lachend hinterher. Pudl sagte: „Stell dich mal ganz nach außen. Die sollen sehen, was hier mit Kindern geschieht.“
Es ist mir gar nicht peinlich, es ist mir gar nicht peinlich, sagte ich zu mir. Von Wache zu Wache. […] Dann wurden wir in einer Turnhalle abgeladen, wo die meisten Juden auf den Knieen rumrutschten und zu Gott beteten. Da fand ich die Erwachsenen schon wieder reichlich dumm. Denn mir war klar, dass ein lieber Gott so etwas nicht zulassen würde. Wünschte mir, erwachsen zu sein. Dachte, dann würde ich mich wehren. Denn wir waren ja viel mehr als die Bewacher. Irgendwann sagte Pudl, dass ich zu einem fremden Mann Papa sagen sollte, mit dem ganz natürlich rausgehen, fröhlich aussehen und mich nicht wieder umdrehen. Hätt ich mich bloß noch mal umgedreht.
Ich hab Pudl nie mehr gesehen.
Die SS-Leute am Ausgang waren wohl kinderlieb. Sie hoben mich hoch und wollten wissen, wie das süße kleine Mädchen heißt. Da hatte ich tatsächlich doch noch mal Angst zu kotzen. Mitten auf die runter. Und mich dadurch zu verraten. Der fremde Mann gab mir Straßenbahngeld, setzte mich in die Bahn und sagte: „Fahr zum jüdischen Waisenhaus!“
Wie wir mit anderen Kindern nach Schweden geschickt wurden.
Mutti hat uns zur Bahn gebracht. Hamburger Hauptbahnhof. Seitdem hass ich den Bahnhof noch mehr als andere Bahnhöfe. Ich kann auch keine Züge sehen, ohne dass mir schlecht wird. Mutti sagte, sie kommt in einem halben Jahr nach, aber das war natürlich Quatsch. Obwohl sie wusste, dass sie uns nie wieder sieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herrliches Lachen, mit weit aufgerissenem Mund und gewunken, solange wir sie sehen konnten. Damit uns der Abschied nicht zu schwerfällt. Hat auch nichts genützt. Ist nicht wahr. Hat es doch.
Als Bübchen und ich nach den ersten gemeinsamen Pflegefamilien in Schweden getrennt wurden.
Bübchen hörte ganz auf zu essen. Wäre er nicht erst vier gewesen, hätte man das Hungerstreik genannt. Als wir uns nach vier Monaten wiedersahen, hatte er auch die Sprache verloren. Da, wo er war, sprach keiner Deutsch, und es brachte ihm auch keiner Schwedisch bei.
Ich war in zwölf verschiedenen Pflegefamilien.
Bübchen erst bei vier Familien und dann fünf Jahre in einem katholischen Waisenhaus. Das war vielleicht ‘ne Scheiße. Ich durfte ihn nur jeden zweiten Sonntag zwei Stunden besuchen und liebte ihn bis zum Wahnsinn. Ich bekam zwanzig Öre die Woche Taschengeld, das waren vielleicht zwanzig Pfennig. Dafür kaufte ich meistens Cremehütchen. Die habe ich gevierteilt, damit es dann viele waren, und ihm mitgebracht. Ich war immer fast am Explodieren, wenn ich da hinrannte. Die Treppen raufraste bis in den vierten Stock. Ich wusste nie, ob ich reingelassen würde.
Ich hatte in Stockholm, als Heiligstes, alle Briefe und Fotos von Mutti in einem Schuhkarton
Auch die fünf Postkarten aus dem Warschauer Ghetto. Alle am gleichen Tag geschrieben. Mit Riesenbuchstaben. „Auf Wiedersehen! Schalom! Wir lieben Euch! Wir denken immer an Euch! Seid brav und nicht traurig!“ Alle im Karton habe ich oft am Tag gestreichelt und abgeküsst. Da sagte unser Vormund, Fabror Sigge: „Du wirst trübsinnig“, und verbrannte den ganzen Karton mit Inhalt.
Durch diesen Verlust gewarnt, trug ich jahrelang von morgens bis abends, erst in großen Taschen, später in Koffern, alle meine Fotos mit mir rum.“
VII. Kommentare zu Peggy Parnass‘ Kindheitserinnerungen
Peggy hat viele für die Kinder der Kindertransporte typischen traumatisierenden Situationen durchlebt. Wenn Peggy davon spricht, dass sie keine Kindheit gehabt hat und darüber nachdenkt, wann ein Mensch erwachsen wird, erwähnt sie den tiefen Schmerz über den Verlust der geliebten Mutter und die bleibende Sehnsucht nach ihr. Lange wurde die Langzeitbedeutung psychisch verletzender Ereignisse besonders bei Kindern geleugnet. Gängige Ansicht in der westlichen Gesellschaft war, Kinder verstünden sowieso nicht richtig, was um sie herum vor sich gehe, und könnten dementsprechend auch nicht darunter leiden. Inzwischen gibt es aber immer mehr Berichte, die das Gegenteil beweisen. Peggy schreibt lapidar, dass sie ab ihrem 14. Lebensjahr alles selbst allein entscheiden musste. Auch vor der Trennung fühlt sie sich für ihre Mutter mit verantwortlich und macht ihrem Vater heftige Vorwürfe, weil er die Mutter betrügt. Später in Schweden übernimmt sie die Verantwortung für ihren kleinen Bruder und ist dabei emotional oft überfordert.
Trennungserfahrung und Verlust der Heimat haben auf viele Kinder traumatisierend gewirkt. Der kindliche Schmerz kommt nicht nur in spontaner Traurigkeit, in Verstimmungen und Depressionen zum Ausdruck, sondern zeigt sich häufig in somatischen Reaktionen, vermehrten Krankheiten, Essstörungen und Verhaltensauffälligkeiten.
Das zeigt auch die Reaktion von Peggys Bruder Gady, der in vier verschiedenen Pflegefamilien war und den sie nach der Trennung von ihm völlig verändert erlebte, er aß nicht und sprach nicht, weil offenbar niemand mit ihm Deutsch sprach und ihm Schwedisch beibrachte. Da war er vier Jahre alt. Auch die Erfahrungen im Waisenhaus waren für Peggys Bruder traumatisierend, aber auch für Peggy, wenn sie ihren Bruder besuchte und oft nicht vorgelassen wurde, weil er angeblich krank war.
Der Grad der Traumatisierung hängt auch davon ab, wie alt die Kinder bei dem Transport waren – ältere waren etwas weniger gefährdet – , ob sie von den Eltern auf den Transport vorbereitet waren oder ob die Trennung als plötzliches Geschehen erfahren wurde, in welchen Verhältnissen sie vor dem Transport in ihrer Familie gelebt haben, wie viel sie vom Zeitgeschehen mitbekommen haben und welche Erfahrungen sie in den Pflegefamilien gemacht haben.
Auch wenn evakuierte Kinder zuvor keinerlei Anlass zu Klagen gegeben und Pflegeeltern ein gut entwickeltes Kind angekündigt bekommen hatten, konnten die Kinder plötzlich krank werden oder Schwierigkeiten bereiten. Viele Pflegeeltern waren dann begreiflicherweise enttäuscht und überfordert, geneigt, ihre Bemühungen aufzugeben und die Kinder weiterzuschicken, auch wenn dies neue Traumata für die Kinder bedeutete.
Dass Peggy in zwölf verschiedenen Familien war, hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie nicht die Rolle eines dankbaren angepassten Kindes annahm. Sie ärgerte sich über die Unwissenheit in der schwedischen Gesellschaft über das Schicksal der Juden in Deutschland. Sie wollte aufklären, da sie die Demütigungen, die ihre Eltern und sie selbst und ihr Bruder erfuhren, bewusst erlebt hatte, auch die Haftzeit ihres Onkels und die Deportation ihres Vaters, der Jude und Pole war. Sie litt darunter, dass ihr niemand glauben wollte. Bei ihren Besuchen im Waisenhaus setzte sie sich energisch gegen erfahrene Ungerechtigkeiten durch die Leiterin des Heimes zur Wehr, wenn diese ihr ein Treffen mit dem Bruder untersagte, weil der angeblich krank war. Deswegen galt sie sicherlich als aufmüpfig und frech. Sie reagierte auf die Trennungserfahrungen mit Verstörung, da ihre Mutter in der Kindheit für sie der Inbegriff der Geborgenheit war. Auch der Verlust des Vaters schmerzt, er war immer stolz auf seine Tochter gewesen. Peggy schreibt, dass sie alle Pflegefamilien gehasst hat, weil sie ihre Mutter nicht ersetzen konnten, es aber oft wollten. Sie lernt, dass sie einsam und allein ist.
Bestimmte Grundbedürfnisse wie Liebe, Verständnis und Akzeptanz mussten befriedigt sein, damit die Kinder der Kindertransporte ihre seelische Belastung durch Verfolgung, Trennung und Evakuierung verarbeiten konnten. Für Betreuer und Pflegeeltern war es sicherlich oft schwer, sich einfühlsam um Verständnis und Unterstützung für die von ihren Familien getrennten Kinder zu bemühen und deren körperliche oder seelische Symptome als Abwehrformen zu begreifen und Verhaltensauffälligkeiten nicht als Ungezogenheiten misszuverstehen.
Eine besondere Rolle in der Erinnerung und Erzählung ehemaliger Kinder der Kindertransporte kommt dem „Objekt des letzten Augenblicks“ zu, einem letzten Erinnerungsstück. Das Objekt ist Bindeglied zu den Eltern, wird später zur Erinnerungsstütze und hat die Funktion einer Erinnerungsbrücke oder auch Klammer für die zurückliegenden Ereignisse. Gefühle von Liebe, Kindheit, Heimat werden auf das Objekt übertragen. Erinnerungsstücke, die als „Ersatz der abwesenden Eltern dienten und letztlich ein materieller Beweis ihrer Existenz waren“, haben daher einen ganz besonderen Wert. Umso schmerzhafter ist für Peggy der Verlust der Postkarten ihrer Mutter aus dem Warschauer Ghetto. Der Vormund hatte den Karton verbrannt, um sie von ihrer Trübsinnigkeit zu befreien, aber ihr damit wichtige Erinnerungsstücke zerstört. Psychologisch gesehen eine Katastrophe. Daher ist es nur verständlich, dass Peggy danach ihre Taschen und dann den Koffer mit den Fotos immer mit sich herumträgt als eine Art Zuhause und letzte Verbindung zu der geliebten Mutter.
VIII. Kommentare zu Peggy Parnass‘ Kindheitserinnerungen. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete
„Gady, der früher Bübchen genannt wurde, war erst vier, als wir aus Hamburg wegmussten. Er kann sich nicht mal an unsere Eltern erinnern. An nichts und niemand von damals. Wir waren staatenlos. Jetzt ist Gady Engländer. Er lebt in Eyn Hahoresh, einem linken Kibbuz zwischen Tel Aviv und Haifa. Mit seiner Frau Shlomith, die am 8. Mai 1945, also am Weltfriedenstag, in diesem Kibbuz geboren ist. Darum heißt sie Schlomith. Das bedeutet Frieden. Gady, der außer mir keine Verwandten mehr hat, hat inzwischen mit Schlomith eine eigene große Familie – drei tolle Kinder und sieben hübsche kleine Enkelkinder. Unsere Eltern, unsere Großeltern, Tanten, viele Onkel, Vettern und Cousinen, fast hundert Familienangehörige, sind ja in den verschiedenen KZs ermordet worden. Mutti und Pudl haben weder Grab noch Grabstein. Nur drei Stolpersteine vor ihrer Wohnung in der Hamburger Methfesselstraße 13. Zwei Steine mit ihrem Namen drauf. Auf dem dritten Stein steht „Die Liebenden“, weil sie sich ja so wahnsinnig geliebt haben.“
Weitere Informationen
GEGEN DAS VERGESSEN: Die Kindertransporte nach England und Schweden 1938/39