Fast auf den Tag genau vor einem Jahr erfuhren wir aus dem Hamburger Abendblatt, mit wem das seit langem geplante Dokumentationszentrum Hannoverscher Bahnhof künftig in einer Hausgemeinschaft leben sollte: in einem Artikel auf der Wirtschaftsseite mussten wir schockiert lesen, dass die Firma Wintershall Dea das Gebäude beziehen sollte.
Wintershall förderte Hitler und die Nazi-Partei schon vor 1933, beteiligte sich an der illegalen Aufrüstung nach 1933, war im Freundeskreis des Reichsführers-SS Himmler vertreten und profitierte von Krieg und Zwangsarbeit. Gegen Ende der 1960er wurde Wintershall eine Tochterfirma der BASF, einer Gründungs- und Nachfolgefirma des IG-Farben-Konzerns, der u.a. Zyklon-B herstellte und Betreiber des Hydrierwerkes IG Auschwitz war. Nach dem anhaltenden Skandal um die ehemalige Hamburger Gestapo-Zentrale Stadthaus, auch ein PPP-Projekt, entwickelte sich hier nun der nächste.
Insbesondere wir von den sogenannten Opferorganisationen, darunter die, die jahrelang den Entwicklungsprozess um den Gedenkort Hannoverscher Bahnhof begleitet haben, der Landesverein der Sinti, die Rom- und Cinti-Union, das Auschwitz-Komitee, die Stolperstein-Initiative und selbstverständlich auch Jüdischen Gemeinden und die VVN-BdA, hatten offenbar zu sehr vertraut auf die 2017 formulierten Vertragssätze.
Wir mussten uns fragen: Sind die Debatten um Erinnerung, Verantwortung und deren Darstellung in der Zukunft in Stadt und Senat wirklich gründlich und ernsthaft geführt worden? Sind die Wahrnehmung und die Wünsche der Betroffenen in diesen Planungen wirklich wahr- und ernst genommen worden?
Wurde an die Betroffenen gedacht?
“Wird das Denkmal geachtet werden?”, sorgte sich im Mai 2017 Lucille Eichengreen, Überlebende der Juden-Deportation vom Oktober 1941, bei der Einweihung des Gedenkortes. Sie kann das nicht mehr überprüfen: Im Februar 2020 ist sie verstorben.
Wer hat den wenigen Überlebenden, z. B. den Sinti Gottfried Weiß oder Rigoletto Weiß, zugehört?
Wir haben uns gefragt: Wer sind wir, dass wir uns über die Wünsche und Gefühle der Überlebenden hinwegsetzen? Um die Wahrnehmung der Opferperspektive durchzusetzen, konnte es keine Kompromisse in der Frage geben, mit wem die Dokumentationsstätte Hannoverscher Bahnhof eine Hausgemeinschaft eingehen kann. Folgerichtig mussten wir die vom Investor vertraglich vorgesehene Firma Wintershall Dea ablehnen.
Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück, begegnete am 14. April 2021 zufällig dem Investor und Vermieter vor dem denk.mal Hannoverscher Bahnhof. Sie sagte zu ihm: “Wir können uns nicht damit abfinden! Sie haben die Möglichkeit, Sie können das ändern. Sie müssen das ändern.”
Eine Mediation sollte Klärung schaffen. Das Auschwitz-Komitee und der Landesverein der Sinti beteiligten sich schon an der ersten Mediationssitzung im Mai 2021 nicht mit der Begründung, dass die Opferverbände hier keine Vertragspartner sind. Zu diesem Zeitpunkt sah alles nach einer heftigen Konfrontation aus.
Aber dann bewegte sich etwas. Im Herbst lud die Mediatorin nach Empfehlung des Senators Vertreter:innen der Opferverbände, der Hafencity Hamburg und der Kulturbehörde zu einem „Side-step“ ein, hatte zuvor mit allen Beteiligten gesprochen. Ein intensiver Austausch, alle haben miteinander geredet. Reden hilft!
Offensichtlich hatten Investor und Stadt erkannt, dass das von ihnen geschaffene Problem eine Lösung brauchte, die nur im Einverständnis mit den Opferorganisationen zu finden war. So entstand das nun heute vorgestellte Projekt.
Jetzt bekommt das Dokumentationszentrum ein eigenes Haus am Ende des Lohseparks! Ein alleinstehendes zweigeschossiges Gebäude an der Ericusbrücke. Herr Müller-Spreer baut das Gebäude mit gleichwertiger Ausstellungsfläche, mit Arbeits- und Seminarräumen wie das bisher geplante Haus. So hat er es versprochen. Die Ausstattung, also den Innenausbau und die Einbauten übernehmen, wie vorher auch geplant, die „öffentliche Hand“ und die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte.
Statt 2023 wird das Haus wohl erst 2026 bezugsfertig sein. Dieser Umweg kostet Zeit. Menschen wie Frieda Larsen, ein Mitglied der Expertenrunde, warten seit mehr als sieben Jahrzehnten auf dieses Zeichen, auf eine sichtbare Anerkennung des Leids, das den deportierten Sinti, Roma und Jüdinnen und Juden angetan wurde. Zu hoffen ist, dass noch einige Überlebende die Eröffnung des Dokuzentrums erleben können.
Weil alle es wollten, konnte eine Lösung gefunden werden für den Gedenkort Hannoverscher Bahnhof. Zugleich müssen wir feststellen, dass nach wie vor in Hamburg kein Gesamtkonzept für die Sicherung und Präsentation der Erinnerungsorte erkennbar ist. Zukünftig erwarten wir, dass Politik und Senat die Entscheidung über die Hamburger Erinnerungskultur nicht mehr an private Investoren delegiert.
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e. V.