Zu Beginn der Verhandlung trat die Richterin noch einmal kurz in die Beweisaufnahme ein, um zu verkünden, dass u.a. auch die versuchte Beihilfe zum Mord an den Angehörigen der Nebenkläger_innen in Betracht zu ziehen sei. Dann setzte RA Nestler die Plädoyers der Nebenklage fort. Nestler begann seine Ausführungen mit einer Geschichte seiner Mandantin Judith Meisel, die heute in einem Altenheim in Minneapolis lebt. Im Juni 1944 war sie zusammen mit ihrer Mutter und Schwester aus dem Ghetto Kowno nach Stutthof deportiert worden. Nach einem halben Jahr im Lager, wurden sie und ihre Mutter im Dezember 1944 für die Ermordung selektiert. Beide standen bereits in der Reihe vor der Gaskammer, als ein Wachmann Judith Meisel zurief, sie solle aus der Reihe heraustreten. Meisels Mutter bestärkte ihre Tochter und rief ihr auf Jiddisch zu, sie solle weglaufen. Judith Meisel nahm sich ein auf dem Boden liegendes Kleid und kehrte in die Baracke zurück. Ihre Mutter sah sie nie wieder.
Mit der Frage „Warum erst jetzt?“ sprang Nestler in die Nachkriegszeit und skizzierte die Entwicklung der deutschen Rechtsprechung in NS-Verfahren. Er betonte, dass er sich sicher sei, dass das Gericht in diesem Prozess ein Urteil von historischer Dimension sprechen werde. Für die Vernichtungslager hätten die Gerichte früh eine richtige Einschätzung gefunden, was die Beteiligung der Wachmannschaften am Massenmord betreffe. Er verwies dabei auf die Urteile im Sobibor-Verfahren 1950 in Frankfurt/Main und Chelmno-Verfahren in Bonn 1964. Durch die Rechtsprechung im Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963-1965 habe bei der juristischen Bewertung der Taten, wie der „Ungarn-Aktion“ 1944, jedoch eine absurde Zerlegung des Massenmords in Einzeltaten stattgefunden. In der Folge seien viele Verfahren, wie etwa gegen die SS-Männer, die in Auschwitz, die Menschen auf LKWs zu den Gaskammern fuhren, eingestellt worden. Die Staatsanwaltschaften stuften die Schuld dieser Täter, z.B. im Vergleich zu den an der Rampe selektierenden Ärzten, als zu gering ein. Ermittlungen wurden nur bei einem konkreten Tatverdacht eingeleitet. Das Urteil im Demjanjuk-Verfahren 2011 brachte dann die Wende. Von nun an konnte jeder Wachmann eines Vernichtungslagers wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Nestler führte aus, wie er mit seinem Kollegen Thomas Walther auf die Idee kam, auch Strafanzeige gegen Demjanjuk wegen dessen Tätigkeit im KZ Flossenbürg 1944/45 zu stellen. Die Anzeige sei mit der Begründung abgelehnt worden, dass Flossenbürg kein Vernichtungslager gewesen sei. Mit den Anklagen gegen Oskar Gröning 2014 und Reinhold Hanning 2015 seien schließlich alle Formen des Massenmords berücksichtigt worden.
Um einen solchen Prozess voranzutreiben, so Nestler, benötige es eine aktive Staatsanwaltschaft und ein Gericht, das bereit sei NS-Verbrechen zu verhandeln. Andernfalls würden die Verfahren mit Verweis auf das BGH-Urteil von 1969 einfach eingestellt, wie zuletzt im Fall des ehemaligen SS-Sanitäters Hubert Zafke. Dieser BGH-Spruch sei jedoch kein Dogma. Nestler bezeichnete das erste Gutachten zur vermeintlichen Verhandlungsfähigkeit von Bruno D. als Skandal. In diesem Zusammenhang machte er dem Angeklagten ein Lob, der Nestlers Erfahrung mit NS-Tätern zufolge, einen der fittesten Eindrücke vor Gericht hinterlassen habe. Auf das Strafmaß eingehend, erklärte Nestler, dass Bruno D. beim Massenmord mitgeholfen habe und deshalb wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen sei. Abschließend ließ Nestler noch einmal seine Mandantin Judith Meisel zu Wort kommen, die sich von dem Verfahren eine Aufklärung darüber erhoffe, dass nahezu jedes KZ ein Ort organisierter Massenvernichtung unter den Augen der deutschen Bevölkerung gewesen sei. Der Prozess solle zeigen, wohin Rassismus führe und dass es falsch gewesen sei dort mitzumachen, egal in welchem Alter man sich befunden habe. Die deutsche Justiz habe Bruno D. sieben Jahrzehnte in dem Glauben gelassen, dass er nichts falsch gemacht habe. Die Höhe der Strafe sei ihr deshalb nicht wichtig.
Danach trug Rechtsanwalt Goldbach sein Plädoyer vor. Die immer wieder vorgetragene Frage „Warum heute noch diese Prozesse?“ sei so alt, wie die NS-Prozesse selbst. Goldbach verwies darauf, dass es immer weniger Überlebende gebe. Seine Mandantin Eva Kurz sei noch vor Beginn des Prozesses am 14.7.19 verstorben, ein weiterer Mandant liege gerade im Sterben. Bruno D. stehe für das Verbrechen des Gehorsams vor Gericht. Die Befragung D.s durch die Richterin klang Goldbach zufolge, wie ein Gespräch zwischen der Kinder- und der Tätergeneration. Der Angeklagte habe dabei bewusst die Unwahrheit gesagt und ein sehr selektives Erinnerungsvermögen offenbart. Fragen nach dem Umgang mit jüdischen Häftlingen habe D. stets abgeblockt. Bei diesen Ausführungen Goldbachs schüttelten die Angehörigen des Angeklagten einmal mehr den Kopf. Goldbach betonte, dass D. die Erschießungen in Neustadt beobachtet haben müsse. Vor Gericht habe er dazu erklärt, dass er zwar Schüsse gehört habe, diese hätten aber auch in die Luft abgegeben worden sein können. Damit habe D. das Geschehene wissentlich verharmlost.
Weiterhin habe der Angeklagte eine überhöhte Verneinung gebraucht, als er davon berichtete, wie er gesehen habe, dass Menschen lebend aus der Gaskammer herausgekommen seien. D. habe dadurch jeglichen Gedanken daran, dass dort Menschen ermordet wurden, abgewehrt. Auch D.s offensichtlich auf Entlastung zielende Aussagen zum Pferdefleisch, das er Häftlingen erlaubt hatte zu essen, und der abstrusen Idee, mit seiner Einheit nach dem 20. Juli 1944 die SS zu entwaffnen, stellte Goldbach in Frage. Dabei habe es sich, um im Nachhinein entstandene Dichtungen des Angeklagten gehandelt. D. habe stets das getan, was von ihm erwartet worden sei, wie z.B. das „Einsammeln“ von Häftlingen mit vorgehaltenem Gewehr am Strand von Neustadt. Am Ende seines Plädoyers trug Goldbach einen Wunsch eines seiner Mandanten vor. Letzterer war kurz vor Kriegsende auf einem Todesmarsch an einer Gruppe feiernder Deutscher vorbeigekommen. Niemand habe sich um die Häftlinge gekümmert. Diese Gleichgültigkeit solle sich nicht wiederholen.
Nach einer 20minütigen Pause folgte das letzte Plädoyer der Nebenklage, vorgetragen von den Rechtsanwälten Özata, Münchhausen und Daimagüler der Überlebenden Marga Griesbach, Judit (Dita) Sperling, Fanta Bransovskaja, Mina Friszman und Suzanna Rabinovici und ihres Neffen Shimon Indursky. RA Münchhausen erklärte, dass sich der Prozess durch den hinter der Anklage stehenden Zivilisationsbruch auszeichne und damit von üblichen Strafverfahren abhebe. Auf der Anklagebank sitze nicht der alte, sondern der junge D. Der Angeklagte habe die Vergangenheit vergessen wollen, während die Überlebenden täglich mit der Shoah leben müssten. RA Münchhausen gab eine Erinnerung seiner Mandantin Rabinovici aus dem Ghetto Kowno wieder. In einem dortigen Versteck musst sie mit ansehen, wie ein Vater die Schreie seines Kindes und damit das Kind selbst erstickte, um nicht entdeckt zu werden. Rabinovicis Vater wurde von den Deutschen im Wald von Vilnius erschossen.
Danach ergriff RA Özata das Wort und betonte, dass die deutsche Justiz jahrzehntelang keine NS-Täter verurteilen wollte. Von einem Nicht-Gelingen könne keine Rede sein, denn das würde den Versuch zur Verurteilung implizieren. Einen solchen habe es aber nicht gegeben. Özata kritisierte, dass auf seine Mandant_innen Druck ausgeübt worden sei. Ihnen sei nahegelegt worden, nicht über die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklagepunkte hinauszugehen, um das Verfahren mit einem Urteil abzuschließen. Özata stellte heraus, dass jeder Häftling in Stutthof Opfer eines versuchten Mordes gewesen sei und jeder Wachmann die Tötung von Menschen billigend in Kauf genommen habe. Özata trug die Erinnerungen von Rabinowitsch an ihre Erlebnisse auf einem Todesmarsch vor, bei dem SS- und Volkssturmeinheiten immer wieder Frauen erschossen hatten. Wären sie nicht von den Alliierten befreit worden, so Rabinowitsch, hätten die Deutschen sie mit Sicherheit ermordet. Özata betonte, dass kein Täter, egal auf welcher Ebene, freiwillig aufgehört habe zu morden.
Zuletzt sprach RA Daimagüler, der die Teileinstellung des Verfahrens der Nebenklage als Fortführung staatlicher Demütigung gegenüber den ehemaligen Verfolgten einstufte, die ihren Anfang in der NS-Zeit genommen habe. Es bliebe ein fahler Beigeschmack zurück. Die Vorstellung, dass in diesem Prozess das letzte Wort über NS-Verbrechen gesprochen werde, sei „schockierend“. In Bezug auf die Strafzumessung führte er aus, dass man nicht wisse, ob D. alles verdrängt oder einfach nur gelogen habe. Den Angeklagten fragte er: „Sie wollen nicht mitbekommen haben, dass Kinder in die Gaskammern getrieben worden sind?“ D. habe vergessen wollen und während seiner Zeit in Stutthof im besten Fall weggehört und weggesehen. RA Daimagüler: „Feigheit schafft Freiräume für Unrecht.“ An D. gerichtet sagte er, dass dieser als SS-Wachmann zum Funktionieren der Todesmaschine beigetragen habe. Zuletzt verwies Daimagüler auf die Gegenwart faschistischer Sprache im Jahr 2020, in dem scheinbar selbstverständlich zwischen „Deutschen“ und „Pass-Deutschen“ unterschieden werde, die geschichtsrevisionistischen Reden der AfD genauso zum Alltag gehören würden, wie die seit 1945 kontinuierlich vorgetragenen Forderungen nach einem „Schlussstrich“. Zuletzt zitierte er seine Mandantin Marga Griesbach, die ihren Sieg über die Nazis darin sehe, schon während ihrer KZ-Haft menschlich geblieben zu sein.