Die Befragung des Gutachters Dr. Stefan Hördler wurde mit dem letzten Thema, der Phase Januar bis April 1945, fortgesetzt. Diese Zeit ist nach Angaben Hördlers deutlich schlechter dokumentiert. Im Januar erfolgte eine überhastete Teilräumung des KZ Stutthof. Zugänge oder Verlegungen in andere KZ kamen nicht mehr vor, weil das KZ Stutthof durch den Frontverlauf abgeschnitten war. Insbesondere in den Außenlagern kam es zu Massakern, das von Palmnicken an der Ostsee ist bekannt.
Hördler beschrieb nun genau die Räumungen, die vom HSSPF Fritz Katzmann angeordnet wurden. Die Rote Armee stand am 23. Januar nur 40 km von Stutthof entfernt, wandte sich dann aber nach Westen und ließ die Region um Stutthof beiseite. Die Räumung sollte zu Fuß nach Lauenburg in Pommern gehen, wo aber eine SS-Unteroffiziersschule nicht mehr zur Verfügung stand, daher Ausweichlager eingerichtet wurden und somit in ca. 145 km Entfernung die Evakuierung stecken blieb. Laut Befehl sollten Wachmänner „rücksichtslos von der Waffe Gebrauch machen“ im Falle von Flucht oder „Meuterei“, wodurch die Wachen freie Hand bekamen. Obwohl eigentlich nur kranke und marschunfähige Häftlinge nicht auf die Räumung sollten, blieb ungefähr die Hälfte der Häftlinge (11.863 am 31.1.1945, davon 6922 im „Judenlager“) zurück. Ende März kehrten auch die Häftlinge der letzten Außenlager zurück. Teilbereiche des KZ wurden schon für andere Zwecke genutzt. Ein neuer Ausbruch von Typhus führte dazu, dass mindestens 4800 Juden und Jüdinnen in diesem Zeitraum starben. Der Kommandant Hoppe setzte sich Anfang April ab, war Ende April im KZ Wöbbelin und dann am 2. Mai auf unbekanntem Weg in Neustadt/ Holstein angekommen. Die Toten – meist Frauen– kamen durch Krankheiten und lebensfeindliche Bedingungen zu Tode, für das Stammlager sind also Erschießungen seltener belegt. Die Häftlinge wurden sich selbst überlassen und nur noch minimal versorgt.
Die Räumung erfolgte am 25. April mit 3000, am 27. April mit 1000 Häftlingen, die in vier Kähnen ab Hela vor sich ging, welche in Neustadt/Holstein, Kiel-Eckernförde, Flensburg und Mön landeten. Auf den Kähnen „Vaterland“ und „Wolfgang“, die mit Bruno D. nach Neustadt fuhren, überlebten nur rund 1200 von 2000 Häftlingen. Hördler zitierte aus drei Berichten. Danach erfolgten die Fahrten ohne Ausgabe von Essen und Trinken in schrecklicher Enge unter Deck. Wer an Deck wollte, wurde erschossen oder in die Ostsee geworfen. In Neustadt erfolgte ein Massaker, „das Meer war rot vor Blut“. Die Räumung wurde vom Stellvertreter Hoppes, Rudolf Reddich, organisiert. D. wurde an dieser Stelle gefragt, auf welchem der beiden Schiffe (die getrennt an der „Cap Arcona“ und „Thielbek“ anlegten) er war. Es war nach seiner Auskunft vermutlich die „Thielbek“.
Anschließend wurde, da das Thema Neustadt am nächsten Verhandlungstag ansteht, der Bericht des Gutachters beendet. Nach der Pause wurden Fragen an Hördler gestellt. Der Verteidiger Waterkamp kündigte an, er habe viele Fragen.
Die erste Frage nach dem Schuhberg, den einige Zeug*innen erwähnt hatten, konnte Stefan Hördler nicht beantworten. Die zweite Frage zielte auf den von Hördler angegebenen Dienst Ds bei ankommenden Transporten. Ein anderer Wachmann aus Ds Kompanie habe wie D. ausgesagt, dort nicht eingesetzt worden zu sein. Dem entgegnete Hördler, der Dienst bei ankommenden Transporten sei Standarddienst gewesen und bei 50.000 neu eintreffenden Häftlingen unvermeidbar gewesen bei einem Wachschlüssel von 1:49.
Waterkamp wollte nun wissen, ob die Genickschussanlage geheim gehalten worden sei. Dem entgegnete Hördler, in einem KZ habe man Mord nicht geheim halten können. Nach rund zwei Wochen Dienstzeit wussten Wachleute Bescheid und es gebe auch Häftlingsberichte darüber. Hier schalteten sich die Richterin und der Staatsanwalt ein, weil die Morde mit Gas viel häufiger erwähnt würden. Hördler entgegnete, die Gasmorde seien im kollektiven Gedächtnis präsenter. Waterkamp wollte nun wissen, ob die Morde durch Genickschuss nicht doch geheim waren, denn es gebe keine Berichte über Widerstand durch die Opfer. Hördler führte an, auch diese Mordmethode sei kommuniziert worden.
Waterkamp fragte nach der möglichen Strafe für D., als der beim Wachdienst eingenickt sei. Hördler beschrieb die variablen Strafen von einer Verwarnung beim ersten Mal bis hin zu härteren Strafen bei Alkoholisierung oder Fluchtfolgen bei Wachvergehen. Waterkamp insistierte, ob es möglich war, dass D. mit Erschießung bedroht worden sei. Hördler hielt diese Frage für spekulativ. Auf Nachfrage bekräftigte Hördler seine Darstellung der Möglichkeiten, sich versetzen zu lassen. Dem hielt Waterkamp entgegen: Freiwilligkeit sei es nur, wenn man z.B. gefragt wurde, wer sich zu einem Erschießungskommando melde. Daraufhin benannte Hördler wichtige Prinzipien: Das Rotationssystem im Kommandanturstab (alle mussten mitmachen); die Möglichkeiten, sich zu entziehen, seien schon bei Browning erforscht worden; außerdem habe es ein Belohnungs- oder Anreizsystem gegeben (Alkohol).
An dieser Stelle erklärte Waterkamp, dass er noch viele Fragen habe. Daher ist vorgesehen, dass die Befragung am 5. Juni fortgesetzt wird.