Der erste Verhandlungstag 2020 begann mit einer Stellungnahme der Kammer zum Presseartikel des Spiegel, in dem die Herkunftsgeschichte des Zeugen Mosche Peter Loth in Zweifel gezogen worden war. Die Kammer wolle Unterlagen prüfen, welche Loths Anwälte zur Verfügung gestellt hatten.
Dann meldete sich Cornelius Nestler mit einer Erklärung zu Wort. Loths Berechtigung zur Nebenklage stehe in Frage, da nur eine Haftzeit der Mutter im Jahr 1943 belegt sei und keine Hinweise auf eine zweite Haft vorlägen. Loth habe in der Verhandlung „eine wilde Story“ präsentiert. Teile seiner Geschichte – eine jüdische Mutter, ein SS-Vater, die Verwechslung der Anstalten in „Tiegenhof“ seien abwegig. Loth habe nach einer „eindrucksvollen Geschichte“ gesucht und nun liege „ein Schatten über diesem Strafverfahren“, denn Loth habe das Verfahren zur medienwirksamen Selbstinszenierung genutzt. Dem Verdacht, er sei ein „Trittbrettfahrer“ müsse „schonungslos“ nachgegangen werden, auch um eine Diskreditierung anderer Zeugen zu vermeiden. Loths Anwälte seien hier in der Pflicht.
Anschließend meldete sich auch der Verteidiger Stefan Waterkamp zu Wort und beantragte, den Gutachter Stefan Hördler wegen Befangenheit abzulehnen. Waterkamp zitierte einige Passagen aus dem langen Gutachten Hördlers, in dem dieser angeblich „nicht belegte Behauptungen“ aufgestellt habe und daher nicht objektiv und neutral sei, vielmehr zu Lasten des Angeklagten schreibe. Hördler stellte die Überstellung D.s in den KZ-Wachdienst als „nicht vollkommen überraschend“ dar – aber Bruno D. habe damit nicht rechnen können. Hördler führe Vorgesetzte der Wachmannschaften an, welche radikalisiert gewesen seien – Hördler könne aber nicht nachweisen, dass diese tatsächlich D.s Vorgesetzt waren. Hördler habe Schulungen und Freizeitprogrammen aufgezählt, aber könne nicht sagen, ob D. daran teilnahm. Auch die Behauptung Hördlers, D. habe zu einer Feldeinheit versetzt werden können, sei ohne Beleg.
Die Richterin Meier-Göring fragte Hördler, ob er darauf reagieren wolle, aber dieser hielt sich zurück. Dafür wies ein Staatsanwalt darauf hin, dass Hördler vorsichtig und zurückhaltend formuliert habe; auch C. Nestler wies die Interpretationen Waterkamps zurück.
Die Kammer zog sich zu einer Beratungspause zurück. Dann erklärte sie, man werde über den Antrag in zwei Wochen entscheiden und nun die Hauptverhandlung fortsetzen.
Nun wurde die Pause ausgerufen und dann erst begann der Vortrag aus dem Gutachten des Weimarer Historikers Stefan Hördler.
Der Weg des Angeklagten in die SS wurde als erstes Thema behandelt. Hördler bezeichnet die Quellenbasis als gut. Er habe alle großen Quellen aus der BRD und Polen einbezogen. Das Gutachten beinhaltet Angaben zu 220 Personen und stellt damit eine repräsentative Studie dar. Hördler erläuterte den Aufbau der SS, getrennt in den Kommandanturstab und Wachmannschaften (oder Totenkopfverbände). Trotz organisatorischer Trennung war ein Wechsel üblich. Hördler erklärte, dass grundlegend sei, dass die SS eine Gliederung der NSDAP war und somit nur ‚Reichsdeutschen‘ offen stand. „Fremdvölkische“ Freiwillige konnten somit nur Dienst in der SS tun, aber nicht in die Allgemeine SS oder die SS-Verfügungstruppen als Mitglieder eintreten. Hördler erläuterte die einzelnen Abteilungen der SS in den KZ. Die Wachmannschaften waren in Totenkopfsturmbanne gegliedert. Der KZ-Komandant Hoppe war in Personalunion Kommandant der Wachtruppen. Führer der 1. Kompanie (von drei Kompanien, denen jeweils ca. 150 Mann angehörten) war Richard Reddig, der schon vor 1933 in die SS eingetreten war. Hördler erläuterte nun die Zusammensetzung der Wachtruppen, die nach 1942 durch volksdeutsche Freiwillige und ab 1943 in geringem Ausmaß durch Trawniki aufgefüllt wurden. 1944 kamen nach einer Vereinbarung mit der Wehrmacht auch Soldaten hinzu. 500 Soldaten wurden nach Stutthof (und Außenlager) beordert. Das bedeutete nahezu eine Verdopplung der Wachmannschaften. Diese Soldaten waren zuerst formal noch dem Heer zugeordnet. Erst am 1.9.1944 erfolgte die vollständige Eingliederung in die SS. Das ist deshalb relevant, weil Hördler aus einem Schreiben schließt, dass die SS ein Drittel der Soldaten wieder an die Wehrmacht zurückgegeben hat wegen mangelnder Tauglichkeit für den Dienst im KZ.
Am 1.9.1944 war damit auch Bruno D. SS-Schütze. Ende 1943 eingezogen, wurde D. in Belgard im Landesschützenausbildungs- und -ersatzbataillon ausgebildet. Einige Ausgebildete wurden zum Wachdienst in Kriegsgefangenenlagern geschickt, andere als Ersatz wieder an die Front. Zum KZ Stutthof kamen dann solche, die bedingt kv-fähig waren oder die schon älter waren. Es bestand also keine Zwangsläufigkeit, wohin man kam, das wurde erst nach der Grundausbildung beschlossen. D. kam Anfang Juni 1944 zur Wachtruppe in Stutthof. In dieser Zeit konnte man noch Wünsche anmelden, wo der Dienst geleistet werden sollte. Bruno D. hätte versuchen können, sich in die 30 % der zurück zur Wehrmacht geschickten einzureihen, wenn er aus Stutthof weggewollt hätte. Grundsätzlich sei es immer möglich gewesen Wünsche zu äußern, z.B. in der Wehrmacht zu bleiben. Ein Antrag auf Verbleib bei der Truppe hätte vor der Übernahme in die SS deutlich größere Chancen gehabt. Nach dem 1.9.1944 war die Möglichkeit, so Hördler auf Nachfrage der Richterin, aber geringer. Richterin Meier-Göring zielte durch ihre Nachfragen darauf ab, die allgemeineren Ausführungen Hördlers auf den Fall Bruno D. zu lenken. Für diesen, erklärte Hördler, gebe es keinen Nachweis, ob sich der Angeklagte freiwillig zur SS gemeldet hat, oder nicht. Für andere Lager sei jedenfalls nachweisbar, dass Männer zur Wehrmacht zurückkehrten.
Die Verhandlung war diesmal erst nach 13:30 Uhr zu Ende. Der Angeklagte soll das Thema auch recht interessant gefunden haben.