Die Vernehmung von Bruno D. wird fortgesetzt. Sein Anwalt erklärte zu Beginn, dass es ungünstig wäre, wenn sein Mandant an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aussagen müsste, weil ihn die Prozesstage, an denen er aussagt, immer extrem mitnehmen.
Die Richterin fragte Bruno D. zunächst, ob er Erinnerungen an Weihnachten 1944 in Stutthof habe und wie seine Freizeitgestaltung aussah. Aus einem Kommandanturbefehl geht hervor, dass es ein Julfest für die einzelnen Wachkompanien gegeben hat. Bruno D. antwortete, dass er keine Feiern mitgemacht habe und es ihm auch nicht möglich war nach Hause zu fahren. Einmal habe ihn sein Vater in Stutthof besucht und dann sind sie außerhalb des Lagers spazieren gegangen. Es sei das einzige Mal gewesen, dass er seine Eltern während dieser Zeit gesehen hat. Sonst habe er keinen Urlaub gehabt. Mit seinen Kameraden, die alle ungefähr in seinem Alter waren, ist er im Ort einmal ins Kino gegangen. Aber sonst hat er sich immer etwas abgesondert. Ins Kino sind sie gegangen, um einmal etwas Anderes zu sehen.
Die Richterin kam dann auf eine frühere Aussage von Bruno D. zurück, wonach sich unter seinen Kameraden keine echten Nazis befunden hätten. Sie betonte erneut, dass sie eher vom Gegenteil ausgeht und dass sich derjenige, der kein Nazi war selbst verraten habe. Bruno D. antwortete, dass auf seinem Zimmer keine echten Nazis gewesen seien. Diese Männer hätten sich bestimmt schon früher freiwillig gemeldet. Über so etwas haben sie auch gar nicht gesprochen. Es wurde zwar immer gemunkelt, wodurch man einiges gewusst habe, aber keiner habe dem anderen gegenüber etwas offen ausgesprochen. Bruno D. betonte, dass er sich selbst nicht als SS-Mann bezeichnen würde, „vom Herz her“ sei er keiner gewesen. Als die Richterin die Namen mehrerer SS-Männer nannte, die in Bruno D.’s Kompanie Ausbilder waren, konnte er sich an keinen erinnern. Zum Chef seiner Kompanie fiel ihm ein, dass dieser einmal mit ihnen ins Dorf gezogen sei, um Häuser zu „durchforsten“. Dabei habe der Kompaniechef ein Motorrad beschlagnahmt, um es dann selbst zu nutzen. Im Lager habe er ihn aber nicht gesehen. Die Zug- und Gruppenführer, die auch alle von der Wehrmacht kamen, fand er „in Ordnung“. Er könne gegen keinen von denen etwas sagen. In einem anderen Zug seien auch Ukrainer gewesen, die schwarze Anzüge trugen. Diese seien vor die Wahl gestellt worden, entweder ins Lager oder zur SS zu kommen. Mit denen habe er sich aber nicht unterhalten und nachdem er aus dem Krankenhaus kam, waren sie auch wieder weg. Auf die Frage, wie er es empfunden habe, ein SS-Mann zu sein, antwortete Bruno D., dass er das nicht schick gefunden habe. „An und für sich“ sei er nie für Uniformen gewesen. Er kam auch in nicht passenden Uniformen nach Stettin. Die Richterin entgegnete hierauf, dass er sich an solche Details ja immer sehr gut erinnern könne und kam dann auf die Transporte zu sprechen, die zwischen August 1944 und Januar 1945 nach Stutthof kamen. In diesem Zeitraum wurden ca. 50.000 Menschen in das Lager deportiert. Bruno D. erklärte erneut, dass er sich daran nicht erinnern könne. Er wisse nicht, wo die „entladen“ worden sind. Die Richterin sagte, dass sie es für ausgeschlossen halte, dass er davon nichts mitbekommen habe. Bruno D. zog sich immer wieder auf die gleichen Behauptungen zurück, wonach er davon nichts mitbekommen habe, oder sich nicht daran erinnern könne. Er habe auch niemanden im Dreck liegen sehen, wie das ein Zeuge [Marek Dunin-Wasowicz] ausgesagt hat. Die Richterin erklärte, dass er das Gericht entweder anlügt oder die Bilder verdrängt hat. Bruno D. antwortete, dass es weder das eine noch das andere sei. Er habe auch nichts davon mitbekommen, dass die neu angekommenen Häftlinge von Wachmannschaften begleitet und wo Letztere untergebracht wurden. Er wisse nicht einmal, wo das SS-Lager war. Die Richterin verwies auf einen Kommandanturbefehl vom 1.10.1944, wonach die Begleitmannschaften eines Transports aus Riga bei der ersten Kompanie, also der Kompanie von Bruno D., untergebracht bzw. dieser zugeteilt wurden.
Die Richterin kam nun auf die Appelle zu sprechen, die auch der Stutthof-Überlebende Abraham Korisky geschildert hatte. Die Häftlinge mussten oft stundenlang, teilweise auch nackt in der Kälte stehen. Bruno D. entgegnete darauf, dass er so etwas nicht gesehen habe. Morgens habe er Appelle gesehen, bei denen die Leute vermutlich auch gezählt worden sind. So ein Appell habe vielleicht eine halbe bis ganze Stunde gedauert und dann seien die Leute wieder in die Baracke gegangen. Grundsätzlich ist der Appell ruhig vonstatten gegangen. In diesem Kontext betonte Bruno D. erneut, dass er mit den Vorgängen im Lager nichts zu tun gehabt habe. Auf dem Wachturm sei es darum gegangen, die Sicherheit des Lagers bzw. den Zaun zu bewachen, mit den Gefangen hatte er nichts zu tun. Im Lager wären Kapos verantwortlich gewesen. Er habe auch nicht darauf geachtet, ob es unter den Häftlingen Menschen gab, die besonders schlecht aussahen: „Warum sollte ich darauf noch achten?“ Die Menschen im KZ hätten ihm Leid getan, besonders die Juden. Diese seien einfach von zuhause abgeholt wurden, obwohl sie nichts getan hatten. Es habe aber auch andere Gefangene gegeben, die „was gemacht haben“. Zum wiederholten Mal fragte er die Richterin: „Was hätte ich tun sollen?“ Er habe das Leid der Leute nicht lindern können. Als die Richterin Bruno D. fragte, was er sich dabei gedacht habe, als nackte Leichen aus den Baracken getragen wurden, antwortete er, dass die anderen Häftlinge wohl auch nicht genug Kleidung hatten, nur einen Kittel und manchmal ein Käppi. Er habe wohl daran gedacht, dass die Gefangenen frieren, aber: „Was hätte ich machen sollen? Meinen Mantel runter werfen?“
Die Verhandlung wurde jetzt für 20 Minuten unterbrochen. Nach der Pause fragte die Richterin Bruno D., wann er eigentlich verstanden habe, dass sich vor seinen Augen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit abspielt. Bruno D.: Das sei ihm natürlich klar gewesen, dass das ein Verbrechen war. Es sei ziemlich schnell gegangen, als man erfahren habe, was für Leute dort bewacht werden sollten. Er habe das nicht für Recht empfunden, aber er konnte doch nicht weglaufen, das gab es nicht. Er habe Befehle ausführen müssen. Auch wenn er daran gedacht habe, da nicht mehr mitzumachen, hätte er diese Gedanken nicht ausführen können, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Ihm sei auch nicht bewusst gewesen, dass das Ausführen von Befehlen schon verbrecherisch war. Er war Soldat und musste Befehle ausführen. Wieder wandte sich Bruno D. an die Richterin: „Wie sollte ich mich dem entziehen?“ Er habe seine Möglichkeiten [der Verweigerung] ausgeschöpft, in dem er nicht an der Partei mitwirkte, womit er sich schon in Gefahr begeben habe. Mehr konnte er nicht machen. Heute könne man sich weigern, damals habe man das nicht gekonnt. Er hätte sich zwar gern versetzen lassen, habe aber gar nicht gewusst, wie er das machen sollte. Verbrecherische Befehle hätte er nicht ausgeführt, er hätte niemanden erschossen. Die Richterin fragte daraufhin: „Aber auf dem Wachturm stehen war o.k.?“ Bruno D. antwortete, dass das nicht o.k. war und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass er darauf keine Antwort geben kann.
Die Richterin blieb hartnäckig und fragte Bruno D., ob er überhaupt wusste, was ihm passiert wäre, wenn er einen Befehl verweigert hätte. Dieser entgegnete, er habe es nicht gewusst, aber geahnt und deshalb nichts gemacht. Die Richterin beschrieb diesen Umstand als „Bequemlichkeit des Gehorsams“, wie es der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning beim Lüneburger Auschwitz-Verfahren genannt hatte. Bruno D. entgegnete, dass er Befehle ausgeführt und nicht daran gedacht habe, dadurch jemanden zu schaden. Es wäre niemand gerettet worden, wenn er sich weggemeldet hätte. Dann wäre eben jemand anderes an seine Stelle getreten. Wenn einer einen Befehl verweigert hätte, wäre er „weggekommen“. Darauf entgegnete die Richterin, dass es keinen bekannten Fall gibt, in dem so etwas passiert ist. Sie erklärte weiter, dass die Nazis Millionen Menschen getötet haben, aber keinen einzigen SS-Mann, der einen Befehl verweigert hat. Bruno D. erklärte, dass es vielleicht vor ihm SS-Männer gab, die sich an die Front versetzt lassen haben, er selbst habe aber keinen Versuch unternommen sich zu verweigern. Er sehe keine Schuld bei sich und habe niemanden Leid angetan. Auf die Frage der Richterin, ob es überhaupt möglich gewesen wäre ein KZ aufrecht zu erhalten, wenn es keine Wachmänner gegeben hätte, betonte Bruno D. zunächst, dass er nicht glaubt, dass die SS alles Verbrecher waren, da seien auch „anständige Leute drunter“ gewesen. Dann antwortete er mit einer Gegenfrage: „Hätte es Krieg gegeben, wenn es keine Soldaten gegeben hätte?“ Die Richterin hielt das für eine berechtigte Frage und führte dann ein fiktives Beispiel an: Sie fragte Bruno D., wer die Schuld habe, wenn in diesem Moment jemand im Gerichtssaal eine Waffe zieht, alle umbringen will und sie den Justizbeamten befiehlt, die Türen zu schließen. Bruno D. antwortete, dass sie einen solchen Befehl niemals geben würde. Er verstehe die Fragen und dieses „Drehen und Wenden“ nicht. Die Richterin entgegnete, dass er die Parallele sehr wohl verstanden habe und hakte nach, ob es nicht vielmehr so sei, dass Bruno D. diese Dinge in seinem Kopf in den letzten 75 Jahren gedreht und gewendet hat. Bruno D. erklärte, dass er nur mit seiner Frau darüber gesprochen habe, aus seiner Familie habe sonst niemand gewusst, dass er Wachmann war. Nach 1945 habe er Filme über den NS gesehen und sich dabei gedacht, wie schrecklich das war, aber nicht, dass er daran mitgewirkt hat. Von den Prozessen gegen Demjanjuk und Gröning habe er nichts gehört und es sei ihm auch nicht in den Sinn gekommen, dass er mal vor Gericht gestellt wird. Er habe gar nicht gewusst, dass die einfachen Wachleute vor Gericht gestellt werden. Auf die Frage der Richterin, ob er nicht Angst gehabt hat, dass sie auch bei ihm vor der Tür stehen, antwortete Bruno D.: „Nein.“ Er sei nicht überrascht gewesen, als die Polizei bei ihm vor der Tür stand, habe sie reingelassen, sich an den Tisch gesetzt und mit ihnen geredet, weil „ich mir keiner Schuld bewusst bin.“
Die Richterin hatte keine weiteren Fragen. Nachdem der RA von Bruno D. darum gebeten hatte, dass die Fragen der Nebenklage, aufgrund der Vielzahl von Kläger_innen, begrenzt werden sollten, wurde die Sitzung geschlossen.